Ostfriesengrab
Masche. Diese ganzen Inszenierungen im Park in Lütetsburg, auf Norderney, im Watt – so etwas konnten sich doch nur Filmleute ausdenken. Da hätten wir gleich draufkommen können.
Rupert überprüfte den Sitz seiner Waffe. Er beschloss, einfach an den beiden dranzubleiben. Er ging vor dem Fährhaus auf und ab und bemühte sich, so auszusehen wie ein Tourist, der auf die nächste Fähre wartete.
Der Mann trank zusammen mit Gunnar Peschke ein Weizenbier, bestellte sich dann auch etwas zu essen und hatte es plötzlich sehr eilig. Er lief zum Lieferwagen zurück, zog einen Parkschein und holte einen Koffer aus dem Auto. Dann ging er zur Hotelrezeption und ließ sich seinen Zimmerschlüssel geben.
Zwei Minuten nach ihm stand Rupert an der Rezeption und erkundigte sich ohne große Umschweife nach dem Herrn, der
gerade eingecheckt hatte. Sein Name war Matthias Omonsky. Angeblich Filmproduzent aus Wiesbaden. Das junge Mädchen mit den ebenen Gesichtszügen nickte und strahlte ihn freundlich an.
Manchmal redete sie nur, um die Stille zu durchbrechen. Die Stille war das Schlimmste. Sie begann schon zu halluzinieren. In der Dunkelheit glaubte sie plötzlich etwas zu erkennen. Saß da in der Ecke jemand auf einem Stuhl? Hörte sie einen fremden Atem oder war es nur ihr eigener?
Sie sprach abwechselnd mit ihrem Vater und mit ihrer Mutter. Sie weinte und sie schrie.
Sie verlor jedes Zeitgefühl, hatte keine Ahnung, wie lange sie inzwischen dort lag. Einmal krabbelte eine Spinne an ihrem linken Bein entlang. Zuerst fand sie es eklig, schüttelte sich und wollte das Tier loswerden. Dann begann sie, mit ihm zu sprechen. Besser eine Spinne als gar kein Haustier, dachte sie.
Wieder und wieder wog sie ab, ob es eine Möglichkeit gab, hier heil herauszukommen. Sie beschloss, ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufzubauen. All die Krimis und Psychothriller, die sie in den letzten Jahren gesehen oder gelesen hatte, dienten ihr jetzt als Lehrmaterial. Sie musste ihn ansprechen, versuchen, ihn für sich zu gewinnen. Garantiert hatte er keinen Menschen, dem er sich anvertrauen konnte. Sie wollte versuchen, diese Vertrauensperson zu werden. Vielleicht würde er sie dann verschonen und statt sie zu töten, bei ihr sein Gewissen erleichtern. Vielleicht konnte sie etwas dazu tun, dass er wieder zu dem netten Typen wurde, der er am Flipperautomaten gewesen war.
Gab es zwei Seelen in seiner Brust? Lebte er in verschiedenen Bewusstseinszuständen? War er eine schizoide Persönlichkeit? Oder war er nur ein Meister der Täuschung und der Verstellung? Hatte er sie einfach reingelegt?
Die zweite Möglichkeit machte ihr noch mehr Angst. Wenn
er kalt und berechnend war, ein Schauspieler, dann hatte sie keine Chance. Wenn er aber krank war und ein Stück seiner Persönlichkeit abgespalten war, konnte sie versuchen, Kontakt mit den gesunden Anteilen aufzunehmen. Immerhin hätte sie sich fast in ihn verliebt.
Ich werde ihn Picasso nennen. Vielleicht bringt ihn das zurück in den Zustand, in dem ich ihn kennengelernt habe.
Jetzt verstand sie nicht mehr, warum sie so bereitwillig mit ihm mitgegangen war, aber in der Kneipe war es ihr völlig logisch erschienen. Etwas an ihm hatte ihr signalisiert, dass er ein erfahrener, zärtlicher Liebhaber war.
Vielleicht, dachte sie, gelingt es mir sogar jetzt noch, ihn zu verführen … Vielleicht stimmt es ihn milde. Vielleicht wird er mich am Leben lassen, wenn …
Sie hörte ihn auch diesmal nicht kommen. Plötzlich flog die Tür auf, das Licht ging an. Geblendet lag sie da, krümmte sich und blinzelte. Sie nahm ihn nur als Silhouette wahr.
Als er die Schlinge um ihren Hals legte, flehte sie ihn an, sie gehen zu lassen. »Ich werde keinem etwas erzählen, das kann alles ganz unter uns bleiben. Es ist doch überhaupt nichts passiert. Du hast mich nicht mal angefasst, mir nur die Haare gefärbt und meine Fingernägel lackiert. Ich sehe aus, als käme ich nach einem Wellnesswochenende von der Schönheitsfarm. Ich werde keinem was verraten, bestimmt nicht! Ich weiß doch nicht mal, wie du heißt. Würde ich dich sonst Picasso nennen? Ich hab mich in dich verliebt, ich … Mach das alles rückgängig. Du musst mich doch nicht fesseln. Und wenn du drauf stehst, mich zu rasieren, dann ist das kein Problem, Picasso. Es gefällt mir. Ich wusste nicht, wie sehr ich darauf stehe, das hast du mir erst gezeigt. Bitte, was machst du da an meinem Hals? Das ist doch nicht dein Ernst! Du willst mir nur Angst machen …
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