Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
verbringen, um sich in die Situation des Opfers einzufühlen. Aus irgendeinem Grund war es jetzt anders. Entweder hatte ihre Beziehung sich verändert, sodass er jetzt von ihr eingeweiht werden konnte, oder etwas war bei diesem Fall anders als bei allen vorherigen.
»Du kannst, wenn du willst, die Flasche Rotwein mitnehmen, und wir machen da so eine Art Picknick bei Nacht. Ich fahre dich hin und natürlich auch wieder zurück. Hast du Hunger? Soll ich uns ein paar Brote machen?«
»Nein danke«, sagte sie, »ich fürchte, das wird kein Picknick.«
Weller fuhr, und Ann Kathrin saß still neben ihm. Sie wollte kein Radio hören und hatte stattdessen die Instrumental-CD von Jens Kommnick aufgelegt. In seine Gitarrenklänge konnte sie sich fallen lassen.
Sie hatte ein Konzert mit ihm in Wremen erlebt, und seitdem war sie ein Fan seines virtuosen Gitarrenspiels.
Wenn sie in so einem Zustand zwischen den Welten war, dann konnte Weller sie einfach so lassen, und das mochte sie an ihm. Sie musste keine Faxen machen, sich nicht für ihn interessieren, keine belanglosen Gespräche führen – sie konnte einfach in sich selbst versinken.
Die Sonne ging hinter den großen Windrädern unter. Seit Fukushima entdeckten immer mehr Menschen die Bedeutung dieser Windräder. Aber jetzt, vor diesem Licht, sahen sie schön aus, ja, sie gehörten hierhin. Nie hatte sie das so sehr empfunden wie in diesem Moment. Das waren die Windmühlen von heute.
Hier im Moor roch es anders als am Wattenmeer. Ostfriesland war so vielfältig in seinen Farben und Gerüchen, dass Ann Kathrin immer wieder etwas Neues entdeckte. Heute waren es die Ausdünstungen von nassem Torf.
Sie hatte mal mit ihrem Exmann Hero einen Hochlandwhisky probiert. Jetzt erinnerte sie sich an den torfigen Geschmack. Der Geruch von nassem Waldboden. Etwas war sehr alt und gleichzeitig ungeheuer frisch. Hier, wo so viel Altes zerfiel, fand auch neues Leben genügend Nährboden, um zu wachsen.
Weller begleitete sie auf eine Aussichtsplattform. Der Sternenhimmel zeigte sich in stolzer Klarheit. Schon auf dem Weg zur Plattform waren ihr die vielen Geräusche aufgefallen. Hier lebte alles. Es knisterte, wuselte und rauschte.
Weller deutete ihr die Stelle an, wo sie die Moorleiche gefunden hatten. Ann Kathrin legte den Zeigefinger über ihre Lippen und machte leise: »Psst!«
Dann setzte sie sich aufs Holz, beide Hände unter ihren Oberschenkeln, und betrachtete die glatte Wasserfläche, auf der sich der Sternenhimmel spiegelte.
Ein Schwarm Vögel rauschte im Tiefflug über das Wasser und landete am gegenüberliegenden Ufer. Immer wieder waren plötzlich Lichter in der Luft. Weller konnte sich das nicht erklären und hielt es zunächst für optische Täuschungen, als würde direkt über dem Wasser jemand ein Feuerzeug entzünden und die Flamme gleich wieder verlöschen lassen. Wo es einmal auftauchte, kam es nicht wieder.
Weller wurde schmerzhaft bewusst, dass er noch nie nachts im Moor gewesen war. Die Menschen verbanden mit Ostfriesland etwas anderes. Das Watt, die Küste. Niemand dachte zunächst an die riesigen Moorgebiete.
Inzwischen hatte er einiges darüber gelesen und wusste, dass die Moorsiedlungen Fehn genannt wurden. Endlich konnte er sich erklären, warum so viele ostfriesische Ortsnamen mit diesem Wort endeten. Rhauderfehn, Ihlowerfehn, Berumerfehn, Warsingsfehn.
Waren das Irrlichter? Vielleicht, dachte Weller, muss man bei Nacht hierher kommen, um zu erkennen, dass dieser Ort etwas Mystisches hat.
Er sah Ann Kathrin und versuchte sich vorzustellen, was sie jetzt dachte. Sie nahm das Gleiche auf wie er. Kam sie auch zu dem gleichen Ergebnis?
Fast schlagartig begriff er ihre Methode. Bilder stiegen in ihm auf. Eine Teufelssekte am Ufer des Moores im Mondschein. Ein Menschenopfer. Oh ja, so etwas gehörte genau an einen Ort wie diesen.
Kamen irgendwelche Teufelsanbeter zu bestimmten Jahrestagen hierher? Vielleicht immer bei Vollmond? Warteten sie auf die Lichter? Hielten sie dieses merkwürdige Naturphänomen für einen Hinweis vom Fürsten der Finsternis?
Er sah diese Bilder jetzt so deutlich, sogar das rhythmische Schlagen der Trommeln ging bis in seine Eingeweide. Er hielt sich erschrocken mit beiden Händen den Bauch.
Ann Kathrin wiegte sich hin und her wie ein Baby kurz vor dem Einschlafen. Wenn er sich nicht täuschte, hielt sie die Augen geschlossen. Sie roch und hörte nur.
Wie so oft, wenn sie selbst ganz still wurde, vernahm sie die Stimme
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