Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
liebsten hätte er ein paar vom Baum gepflückt und reingebissen, aber er wusste, dass sie jetzt noch nicht schmeckten. Sie waren noch zu hart.
»Ich kenne die Naht.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Nun, vor achtzehn oder zwanzig Jahren, als ich eine junge Assistenzärztin war …«
Weller staunte. Sie musste wesentlich älter sein, als er sie geschätzt hatte. Er fragte sich, ob sie in ihren jungen Jahren bereits Schönheitsoperationen hinter sich gebracht hatte oder wie man sonst an solch faltenfreie Haut kam.
Das sagte er aber nicht, sondern versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Eine Pathologin, die abends anrief, um ihren Bericht zu ergänzen, war ungewöhnlich …
»Damals hatte ich das Glück, bei einem sehr guten Chirurgen zu lernen. Dr. Dietmar Albers. Er hatte die letzten ein, zwei Berufsjahre. Ein wirklich alter Hase, der …«
Sie schluckte trocken. Es knackte und knatschte im Telefon. Weller fürchtete schon, die Verbindung könnte unterbrochen werden.
»Er hatte eine besondere Art, eine Wunde zu vernähen, und Ihre Moorleiche erinnert mich daran.«
»Gibt es nicht ein standardisiertes Verfahren, wie man so etwas näht? Macht das jeder, wie er will?«
Sie stöhnte. »Sie müssen sich das ungefähr so vorstellen wie das Alphabet. Jeder lernt Schreiben, jeder kennt die gleichen Buchstaben, aber trotzdem hat jeder eine eigene Handschrift. Sie können doch auch Briefe voneinander unterscheiden. Sie wissen, ob Sie ihn geschrieben haben oder Ihr Kollege.«
»Hm. Die Sache ist heiß«, sagte Weller. »Verdammt heiß. Und Sie erkennen also anhand der Stiche, wer die Haut zusammengenäht hat?«
Weller ging zur Terrasse zurück und setzte sich. Er war plötzlich klatschnass geschwitzt. Ein kühler Westwind ließ ihn frösteln, und er verstand die nächsten Sätze von Frau Dr. Hildegard nicht, denn ein Zug rauschte vorbei, der neue Touristen nach Norddeich brachte.
Zunächst wollte Weller aufstehen und mit dem Telefon ins Haus gehen, aber dann wartete er einfach den vorbeifahrenden Zug ab, bis nur noch das Vibrieren der Gleise zu hören war.
»Haben Sie bereits mit irgendjemandem darüber gesprochen?«, fragte Weller.
»Nein, natürlich nicht. Ich habe sogar mit mir gehadert, ob ich Ihnen das sagen soll.«
»Na hören Sie mal, so ein schwerer Verdachtsmoment …«
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Weller. Ich bin streng wissenschaftliches Arbeiten gewöhnt, aber ich ermittle nicht. Ich nenne keine Namen. Ich verdächtige niemanden, und Dr. Albers war ein feiner Kerl. Er hat mich gut behandelt, mich ernst genommen und mir eine echte Chance gegeben. Ich mag diesen Mann, und ich will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Ich fürchte, er hat sich selbst in Schwierigkeiten gebracht, Frau Doktor. Wissen Sie, wo er sich zurzeit aufhält?«
»Er ist pensioniert. Ich habe ihn später nie besucht. Jetzt tut es mir leid, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er in Ostfriesland lebt. Er liebt dieses Stückchen Erde, und ich glaube nicht, dass er weiter als fünf Minuten Fußweg vom Meer entfernt wohnen wird.«
Etwas an ihrer Aussage stimmte nicht, aber Weller hätte nicht sagen können, was es war. Er hatte nur so ein ungutes Gefühl. Er spürte, dass da ein Haken war, aber er fand ihn nicht.
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Herr Kommissar. Ich will auf keinen Fall sagen, dass Dr. Albers damit etwas zu tun hat. Aber die Stiche erinnern mich halt doch sehr an seine Handschrift. Es könnte natürlich genauso gut einer seiner Schüler gewesen sein. Wenn man bei jemandem lernt, dann …«
»Jaja, schon klar. Meine Grundschullehrerin hat sehr darauf geachtet, dass wir alle beim f und beim l einen großen Bogen machen. Das sah später bei all meinen Klassenkameraden gleich aus. Wir haben übertriebene Schwünge in diesen Buchstaben, denn immer wenn dieser Bogen oben, sie nannte es das Köpfchen , zu klein war, kriegten wir das als Fehler angestrichen. Insofern werden sich die Handschriften meiner Klassenkameraden aus der Grundschulzeit gleichen. Ich mache es bis heute so. Dadurch sieht meine Handschrift fast ein bisschen kindlich aus.«
»Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.«
Im Grunde war das Gespräch damit beendet, aber sie machte keinerlei Anstalten, aufzulegen.
Für so etwas hatte Weller im Laufe der Zeit eine Art siebten Sinn entwickelt. Manchmal wollten Leute noch etwas sagen, rückten aber nicht damit heraus. Dann kam oftmals erst das
Weitere Kostenlose Bücher