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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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polizeibekannt. Man konnte ihm nichts, aber man kannte ihn. Früher hatte es immer mal wieder Anzeigen wegen Körperverletzung, Vergewaltigung, Nötigung oder Betrugs gegeben. Meist wurden die Anzeigen dann aber kurz vor Prozessbeginn zurückgezogen. Jemand wie er hatte viele Feinde. Alle Feministinnen, falls es diesen Typ Frau überhaupt noch gab. Dann praktisch alle Frauen, die er an deutsche Männer »vermittelt« hatte, deren Brüder, Schwestern und – falls es ihnen gelang, sich zu befreien und wieder eine Partnerschaft einzugehen – die neuen Ehemänner oder Freunde. Dazu kamen Konkurrenten von anderen »Ehevermittlungsinstituten«, Zuhälter, Mädchenund Frauenhändler. Die Russenmafia hätte sein Geschäft nur zu gern übernommen und die Shanghaigang auch. Er hatte die Firma mit ein paar gezielten Schüssen vor all diesen Übernahmeangeboten geschützt.
    Die Freunde von der Mordkommission werden in seinem Umfeld nach Motiven suchen und sofort fündig werden. Die
haben gar nicht genug Leute in Wiesbaden, um alle Verhöre zu führen. Da werden eine Menge wilder Stecher eine Nacht auf der Wache verbringen. Vielleicht würde einer sogar gestehen. Es hatte schon einmal einer einen Mord gestanden, den er begangen hatte. Mit solchen Verrückten musste man immer rechnen.
    Er stellte sich den neuen soliden Freund einer Philippina vor, die mehrfach weitergereicht und umgetauscht worden war. Vielleicht hatte Stenger sie stumm machen lassen, um sie noch loszuwerden. Es gab viele solcher Frauen. Irgendwann fügten sie sich in ihr Schicksal oder sie rasteten aus. Vielleicht hatte sie jetzt einen neuen Freund, so einen Frauenversteher, der sich gern mit Beziehungsopfern einließ, weil er dann immer der Held war. Der Gute. Wenn die Albträume sie nachts hochschrecken ließen, hatte er bestimmt oft geschworen, Stenger eines Tages umzubringen, es aber natürlich nie getan. Vielleicht hatte einer seinen Job erledigt und es ihm auf alle Zeiten unmöglich gemacht, zum Helden zu werden. Für manche Menschen war es einfacher, für die Taten eines anderen bestraft zu werden, als sie selbst zu begehen. Die brauchten immer einen Vorturner.
    Er trug weiße Gummihandschuhe. Die Walther P 1 war bestens gepflegt und geölt, sie lag in ihre Einzelteile zerlegt vor ihm. Er sah auf die Uhr, dann baute er sie binnen 42 Sekunden zusammen. Er war langsam geworden, aber im wirklichen Leben spielten solche Mätzchen keine Rolle.
    Er wog die acht Patronen in der Hand. Mindestens die Hälfte davon würde er auf Stenger abfeuern, vorsichtshalber alle Tonbandkassetten mitnehmen, dann Benzin vergießen und den ganzen Laden anzünden. Ja, auch wenn er es wichtig fand, emotionslos und völlig klar vorzugehen, musste er sich eingestehen, dass er sich darauf freute. Im Grunde hatte er Stenger immer verabscheut, ihn und seinen Bruder.
     
    Ann Kathrin wusste, dass sie zurück an die Küste musste, um ihre Probleme einzudeichen. Sie erinnerte sich an den Nebel, der wie ein Tier über den Deich gekrochen war und sie eingehüllt hatte, bis sie nicht mehr sehen konnte, wo das Festland war und wo die Nordsee. Sie kam sich in Gelsenkirchen vor wie in einem Nebelmeer. Sie stocherte in der milchigen Luft herum, doch sie bekam nichts wirklich zu fassen und alles, was sie berührte, fühlte sich eklig an.
    So einen Vater wie Ludwig Stein wollte sie nicht haben. Sie dachte an all die Kinder der Kriminellen, die sie verhaftet hatte. Wie fühlten die sich, wenn sie, oft schon in Pflegefamilien gekommen, erfahren mussten, dass ihre Mutter wegen Totschlags verurteilt worden war oder ihr Vater wegen mehrerer Banküberfälle. Sie dachte an den Anruf von Isolde Klocke, die angeblich vor Spiekeroog ertrunken war, an den merkwürdigen Auftritt von Beukelzoon, der seine Wohnung anonymisiert hatte. Vielleicht hatte er es richtig gemacht. Vielleicht lebte er nur deshalb noch, weil er unauffindbar war. Vielleicht gefährdete sie ihn, indem sie die alten Geschichten nun aufwühlte.
    Sie fragte sich, wie sie ihrer Mutter gegenübertreten sollte nach all dem, was sie über ihren Vater erfahren hatte. Machte es überhaupt einen Sinn, ihr davon zu erzählen? Tat sie ihr damit etwas an? Hatte Wahrheit einen Wert an sich? Wem nutzte ihr neues Wissen?
    Sie unterdrückte den Wunsch nach einem großen Schnaps. Ein Doppelter half jetzt nicht. Sie hätte einen Vierfachen gebraucht, aber genau das wollte sie jetzt auf keinen Fall. Sie durfte sich jetzt nicht mit Alkohol abschießen. Sie

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