Ostfriesensünde
konnte bei der Sparkasse garantiert ohne Probleme ihr Konto überziehen oder kurzfristig eine Hypothek aufs Haus aufnehmen. Trotzdem. Etwas in ihr sperrte sich. Sie hatte Sorge, sich danach noch mieser zu fühlen.
»Wissen Sie, was ich besonders ekelhaft fand? Immer, wenn man das Büro betrat, dann hatte Ihr Vater so eine ganz fiese Art, einen stumm heranzuwinken. So.« Sie machte es mit dem Finger vor. »Und dabei öffnete er seine Lippen immer leicht und seine Zunge kam kurz hervor. Nur ein bisschen. So. Und dann, wenn man nah genug bei ihm stand, dann strich er mit den Fingern an der Innenseite der Oberschenkel ganz langsam nach oben. Ich krieg jetzt noch eine Gänsehaut davon. Dabei sah er einem ins Gesicht. Ja, ins Gesicht. Er wollte die Reaktion sehen. Man musste ja gute Miene zum bösen Spiel machen. Kein Mädchen hätte es gewagt, zu ihm zu sagen: Nehmen Sie Ihre Dreckspfoten da weg! Wissen Sie, warum Ihr Vater das gemacht hat? Ich glaube nicht, dass es ihm um einen Lustgewinn ging. Es ging um Macht. Ganz einfach Macht. Er hat das zu gerne gemacht, wenn seine Kumpels dabei waren. Akki und Bogie und wie die alle verniedlichend genannt wurden, und der mit den großen Lippen, The Brain, Beukelzoon.«
Ann Kathrin hielt es kaum noch auf dem Sitz. Sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Sie war blass und merkte nicht, dass sie weinte.
»Wenn man zu ihm reinkam, wusste man nie, was geschah. Manchmal beachtete er einen gar nicht. Dann stand man da wie ein Gummibaum. Aber es konnte auch sein, dass er sagte: »Zieh die Scheiß-Jeans aus. Hat dir nie einer gesagt, dass Frauen Röcke
tragen und Männer Hosen? Und was ist das für ein Slip? Da kannst du ja gleich Pampers tragen. Du bist dazu da, deinem Mann zu gefallen. Glaubst du, so etwas gefällt ihm?!«
Ann Kathrin stieß die Autotür auf und sprang raus. Sie hielt es einfach nicht länger aus. Was Kim 12 da sagte, war schlimm genug, aber was Ann Kathrin aus dem Auto fliehen ließ, war ihre Stimme. Bei den letzten schrecklichen Befehlssätzen hatte sie Ann Kathrins Vater imitiert. Diese Mischung aus Ruhrgebietseinschlag und ostfriesischen Sprachsprenkeln, das Heben der Stimme am Ende des Satzes. Das Binden einzelner Worte, als sei der Satz nur ein einziges Wort, ja, genau so hatte ihr Vater gesprochen. Nie hatte sie solche Sätze von ihm gehört und doch wusste sie jetzt, dass er sie gesagt hatte.
Der Regen tat Ann Kathrin gut. Sie stand in einer Pfütze. Am liebsten wäre sie jetzt am Meer gewesen, um ihren Frust vom Deich aus dem Donnern der Wellen entgegenzubrüllen.
Sie hielt ihrer inneren Sturmflut kaum stand. Sie stellte sich ihren Vater vor, wie er eine Asiatin heranwinkte, breit in den Sessel gefläzt, wie er manchmal zu Hause nach dem Dienst vor dem Fernseher abhing. Nur diesmal spielten seine Finger zwischen den Beinen einer Frau.
Statt zu brüllen, trat Ann Kathrin heftig mit dem rechten Fuß auf. Das Wasser der Pfütze spritzte gegen die Wagentür.
Der Ford startete. Ann Kathrin machte keine Anstalten, Kim 12 aufzuhalten. Sie war froh, jetzt alleine zu sein. Sie hatte sich das Autokennzeichen gemerkt. Sie war jederzeit in der Lage, Kim 12 zu finden. Der Wagen mit den zusammengenähten gehäkelten Topflappen gehörte garantiert ihr … Es sei denn, das mit den Topflappen war auch nur eine Erfindung. Aber Ann Kathrin glaubte nicht mehr an Erfindungen. Das alles entsprach der Wirklichkeit. Und wieder waren die Namen gefallen. Akki. Bogdanski. Ihr Vater hatte die Bankräuber gekannt und mit ihnen dunkle Geschäfte gemacht. Er war ganz sicher nicht zufällig
in den Banküberfall geraten und als Geisel ausgetauscht worden. Das alles musste einem Plan gefolgt sein, der dann irgendwie aus dem Ruder gelaufen war.
Sie ging durch den Regen zum Hotel zurück. Sie kam klatschnass dort an. Sie fuhr hoch in ihr Zimmer, bestellte sich eine heiße Suppe und ließ sich ein Bad ein.
Käfer, du leberkranker Schmierlapp, dich mach ich fertig, dachte sie laut.
Wie ein Mantra wiederholte sie den Satz immer wieder, bis er bedeutungslos geworden war.
Rupert telefonierte die ersten zwanzig Klientinnen von Dr.Gaiser durch. Sie arbeiteten zu fünft. Das erste Zwischenergebnis hatten sie am frühen Nachmittag. Dr.Gaiser hatte zehn Jahre in der Schweiz gearbeitet. Die ersten drei in einer Gemeinschaftspraxis in St. Gallen, die letzten sieben in Luzern. Es folgten drei Jahre in Bamberg und fünfzehn in Ostfriesland. Er genoss offensichtlich bei vielen Klientinnen
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