Ostseeblut - Almstädt, E: Ostseeblut
Welt für sich, fast autark, gleichzeitig aber Arbeitgeber für viele Leute in der näheren Umgebung. Die Mädchen konnten sich recht frei bewegen, wenn sie erst einmal das Vertrauen ihrer Erzieher erlangt hatten. Einige gingen auch außerhalb des Heims zur Schule oder machten eine Ausbildung. Tamara war damals siebzehn Jahre alt. Es war ein offenes Geheimnis, dass sie mit jemandem aus dem Ort befreundet war. Das wurde toleriert, solange sie sich an die vorgegebenen Ausgangszeiten hielt. Ihre Freundinnen wussten, dass sie mit Sven Waskamp zusammen war. Er hat zu der Zeit mit seiner Schwester Julia bei seiner Tante und seinem Onkel, den Gregorians, gewohnt. Tamara Kalinoff starb in einer Februarnacht im Becken des heiminternen Schwimmbades. Du kennst ja die Fakten: Laut Obduktionsbericht ist sie ertrunken. Um Hals und Brust war ein Seil gewickelt, an dem ein Metallgegenstand zum Beschweren befestigt war. Unmittelbar vor ihrem Tod hatte Tamara Kalinoff dem Anschein nach den Versuch unternommen, bei sich selbst eine Abtreibung vorzunehmen. Man fand einen verbogenen Drahtkleiderbügel, blutige Textilien und Blutspuren in einer der Umkleidekabinen. Der Eingriff war missglückt, stattdessen hatte die Manipulation mit einem Draht die Gebärmutterwand mehrfach perforiert. Das hat zu einer starken Blutung geführt und stellte an sich schon eine lebensgefährliche Verletzung dar. Sie muss nach dem Abtreibungsversuch unter starken Schmerzen gelitten haben. Ich habe einige der alten Ermittlungsberichte gelesen: Die Polizei hat ihren Tod damals gründlich untersucht. Das Ergebnis lautete auf Selbstmord durch Ertränken nach einem missglückten Abtreibungsversuch. Sven Waskamp, Tamara Kalinoffs Freund, hatte ein Alibi für den Abend ihres Todes. Er und seine Tante waren an diesem Februarabend zu einem Verwandtenbesuch nach Husum gefahren. Der Blutgruppenuntersuchung nach kam Waskamp als der Kindsvater infrage, er bestritt jedoch, mit Tamara sexuell verkehrt zu haben. Das hat er später widerrufen, aber erklärt, ein Kondom benutzt zu haben. Sven Waskamp konnte sich von dem Vorwurf, Tamara Kalinoff geschwängert und sie so in diese Notsituation gebracht zu haben, nie reinwaschen, zumal es keinen Hinweis auf einen anderen Mann in Tamaras Leben gab. Die Freundinnen des Mädchens wurden befragt, ohne dass etwas dabei herausgekommen ist. Eine von Tamaras Freundinnen, ihre Zimmergenossin Janet Domhoff, wurde bald darauf aus dem Heim entlassen. Entscheidend für diesen Fall ist, dass die DNA -Analyse zu der Zeit noch in den Kinderschuhen steckte. Die Spurenlage am Tatort, einem fast öffentlichen Schwimmbad, war verheerend, und man konnte auch nicht beweisen, wer Tamara Kalinoff geschwängert hatte. So blieb der Verdacht an Sven Waskamp hängen. Da aber während der Ermittlungen auch immer wieder Zweifel am Selbstmord des Mädchens bestanden hatten, wurden vorsorglich Gewebeproben Tamaras und auch des Fötus aufbewahrt.«
»Warum war eigentlich niemandem im Heim aufgefallen, dass Tamara Kalinoff über Nacht weg gewesen war?«
»Sie ist abends nach der offiziellen Bettruhe aus einem Fenster hinausgeklettert. Das hat jedenfalls ihre Freundin Janet Domhoff ausgesagt. Am nächsten Morgen wurde Tamara Kalinoffs Leiche von Solveigh Pahl im Schwimmbecken gefunden.«
»Weiß man, was in der Zwischenzeit mit ihr passiert ist?«
»Ja. Hier kommt Martin Gregorian ins Spiel. Ich muss noch mal zurückgreifen. Einiges von dem weißt du auch schon, aber ich erzähle der Reihe nach: Tamara Kalinoffs Tod galt als Selbstmord. Sven Waskamp war in den Augen vieler Kargauer zumindest moralisch mitschuldig. Die alte Geschichte muss wie ein Schatten über allem gelegen haben, was er tat. Dann erschien der Zeitungsartikel. Bernd von Ohlen, Waskamps Schwager, nahm die Konzertreise der Geigerin Maria Barlou zum Anlass, über ihre Partnerin, Janet Domhoff, zu berichten. Über ihren Unfalltod auf Korfu und dass sie mal in Kargau im Heim gelebt hatte. Ein schönes Foto von der Uhlenburg war auch dabei. Sven Waskamps alte Ängste wurden wieder wach. Er befürchtete, dass da noch mehr kommen würde, und er konnte im späteren Wahlkampf keine negative Presse gebrauchen. Er beschwerte sich über den Artikel – aber nicht bei seinem Schwager Bernd von Ohlen, sondern bei dessen Vorgesetztem. Waskamp befürchtete, dass ihn die Geschichte mit Tamara Kalinoff unter ungünstigen Umständen seinen Sitz im Bundestag kosten könnte. Er hat ausgesagt, dass er sich deshalb
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