Ostseefluch
heute Vormittag bei einem Kunden auf dem Festland. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Tochter in Gefahr ist ...« Er brach ab. In seinen Augen spiegelte sich das unfassbare Grauen.
Trotz des Schocks: ein eilig präsentiertes Alibi, dachte Broders und neigte leicht den Kopf.
»Habe ich dir nicht immer gesagt, dass Milena in Gefahr ist?«, hörte Broders da eine Frau sagen. Sie stand so plötzlich im Türrahmen, als hätte sie sich gerade erst materialisiert. Ihre altmodische Kleidung, ihr strähniges mausbraunes Haar und die sehr blasse Haut erweckten den Eindruck, es mit einer Art Geist zu tun zu haben. Die Augen der Frau waren starr auf Rudolf Ingwers gerichtet.
Heinz Broders räusperte sich. »Frau Ingwers?«
Doch sie antwortete nicht. »Was ist mit Milena? Was wollen diese Leute hier?«, fragte sie ihren Ehemann, als wären Broders und sein Kollege gar nicht anwesend.
»Milena ist tot, Judith.« Ingwers klang sanft, aber auch seltsam gereizt.
»Nein, das ist nicht wahr. Niemals ...« Judith Ingwers’ Pupillen wurden riesengroß, sie verdrehte die Augen, und dann rutschte sie wie in Zeitlupe am Türrahmen herunter.
»Da sehen Sie mal, was Sie angerichtet haben!«, herrschte Ingwers ihn an, als Broders zu der bewusstlosen Frau lief, um ihr zu helfen.
Es war inzwischen Abend geworden. Pia hielt vor einem Mietshaus in der Glockengießerstraße. Fiona, Felix’ Tagesmutter, wohnte hier in einer Wohnung im Erdgeschoss. Das Küchenfenster, das zur Straße rausging, war mit bunten Bildchen beklebt, die Motive von einem Bauernhof darstellen sollten. Das Mobile aus Tonkarton-Pinguinen hinter der blank geputzten Scheibe bildete einen seltsamen Kontrast zu den geschätzten fünfunddreißig Grad im Schatten, die heute in Lübeck gemessen worden waren. Doch zu Fionas Wohnung gehörte ein kleiner, schattiger Hinterhofgarten, in dem wahrscheinlich sogar über Mittag noch einigermaßen annehmbare Temperaturen geherrscht hatten.
Pia öffnete die Wagentür. T-Shirt und Jeans klebten ihr nach der kurzen Fahrt in ihrem nicht klimatisierten Privatwagen am Körper. Sie vermutete, dass ihr Gesicht stark gerötet war. Sie hatte sich beim Herumstehen im Gemüsegarten ordentlich die Haut verbrannt. Felix war am Morgen von ihr sorgfältig mit einer Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor fünfzig eingecremt worden, doch um sich selbst zu schützen, war keine Zeit mehr gewesen. Im Polizeijargon ein klarer Fall von »vernachlässigter Eigensicherung«. Pia klingelte und stieß nach dem Summen die Haustür auf.
Fiona stand im dunklen Hausflur an der Wohnungstür und erwartete sie. An eines ihrer nackten Beine klammerte sich, wie fast immer, ein Kind. Nicht Felix – darüber war er inzwischen hinaus.
»Hi, Fiona. Tut mir leid, dass ich wieder erst auf den letzten Drücker komme.«
»Wenn ich pünktlich Feierabend machen wollte, hätte ich nicht das Kind einer Polizistin angenommen«, sagte Fiona und ließ Pia eintreten. »War’s ein schlimmer Tag?«
»Seh ich so aus?« Pia warf einen schnellen Blick in den Garderobenspiegel. Es war noch schlimmer.
Fiona deutete in Richtung Garten. »Felix wird dich wohl trotzdem noch erkennen. Er hat schon nach dir gefragt.«
Ihr kleiner Sohn saß auf dem Rand der Sandkiste und leckte gerade ganz versunken ein Förmchen aus. Als er sie sah, stand er auf, schwankte ein wenig, um sein Gleichgewicht zu finden, und kam, das Förmchen fest umklammert, mit wackeligen Schritten auf sie zu. Das Laufen wurde täglich besser. Kaum war sie einen Tag nicht da, hatte er wieder etwas Neues gelernt. Er streckte ihr das Förmchen entgegen, doch als sie vor ihm in die Hocke ging, um ihn in den Arm zu nehmen, fing er an zu weinen. Pia drückte ihn an sich und fühlte, wie sich seine kleinen, sandigen Finger in ihren Nacken gruben.
»Hey, Felix. Jetzt bin ich ja wieder da«, flüsterte sie.
»Es war den ganzen Tag in Ordnung«, sagte Fiona. »Er hat eigentlich gar nicht geweint. Nur einmal, als er sich beim Hinfallen ein wenig wehgetan hat. Aber wenn er dich sieht, ist es vorbei.«
»Er hat sich wehgetan?«
Es war nur eine Schramme am Knie, die Fiona sorgfältig mit Desinfektionssalbe und einem Pflaster verarztet hatte. Fiona war die perfekte Mutter. Sie kochte nur Gemüsegerichte mit Zutaten aus dem Biomarkt, und hätte es das zu kaufen gegeben, wären auch die Sandförmchen in ihrem Haushalt aus ökologisch unbedenklichem und unbehandeltem Holz gewesen. Felix hier zu wissen, während sie arbeitete, war für Pia
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