Ostseefluch
ein gutes Gefühl. Aber es war irgendwie auch frustrierend, wenn sie ihre eigenen mütterlichen Fähigkeiten mit denen Fionas verglich.
»Wir sehen uns übermorgen«, sagte Fiona beim Abschied. »Vergiss bitte nicht, Felix nächstes Mal ein langärmeliges T-Shirt mitzugeben. Pauline ist dann auch da, und wir wollen vielleicht mal wieder zum Spielplatz gehen.« Wenn die Sonne schien, bestand Fiona auf Sonnencreme, einem breitkrempigen Hut, langen Ärmeln und langen Hosen.
»Er bekommt alles mit, was er braucht«, versicherte Pia und machte einen geistigen Vermerk: dringend waschen! Morgen fand sie hoffentlich die Zeit dazu. Es war ihr freier Tag. Ihr Tag mit Felix.
Fiona erzählte ihr noch, dass sie am nächsten Tag einen Zahnarzttermin wahrnehmen und einkaufen gehen wollte. Pia nickte. Also würde Fiona dann nicht einspringen können, falls sie selbst wider Erwarten doch arbeiten musste. Zu Beginn einer neuen Ermittlung wusste man nie so genau, was kam.
Pia trug Felix, der zappelte, weil er lieber über die Straße laufen wollte, zum Auto. Unfassbar, wie so ein kleiner Mensch das Leben eines anderen komplett umkrempeln konnte.
Im Haus der Ingwers war wieder Ruhe eingekehrt. Die beiden Polizisten hatten sich vor einer guten Stunde auf den Weg gemacht. Der Hausarzt war eben gegangen. Das Beruhigungsmittel, das er Judith injiziert hatte, wirkte prächtig. Rudolf Ingwers hatte an sich halten müssen, den Arzt nicht aufzufordern, seiner Frau doch bitte eine ordentliche Dröhnung zu verpassen. Aber Dr. Mellert hatte ihn auch so verstanden. Ingwers wusste nicht, wie er mit seinen Gefühlen klarkommen sollte, mit dem Entsetzen, der Trauer und der Wut. Wut auf das Schicksal, das ihm seine Tochter genommen hatte. Er spürte das Verlangen, um sich zu schlagen oder wenigstens mit Worten zu verletzen, um sich irgendwie Luft zu machen – da konnte er sich nicht auch noch um Judith kümmern.
»Wie soll sie das nur ertragen? Den Tod ihres eigenen Kindes ...«, hatte Rudolf nur flüstern müssen, und Mellert hatte nach einer weiteren Ampulle gegriffen. Er hätte besser Viehdoktor werden sollen, war von jeher Rudolfs Meinung über den Arzt gewesen. Mellerts »Rosskuren« waren berüchtigt. Dafür fuhr er aber bei Nacht und Nebel noch zu den entlegensten Höfen der Insel hinaus, um Patienten zu helfen, die sich selbst nicht zu ihm bewegen konnten. Karl Mellert gehörte zu der aussterbenden Spezies der praktischen Ärzte, die noch bereitwillig Hausbesuche machte.
Judith lag mit offenem Mund auf dem Bett und schnarchte. Es machte Rudolf schon aggressiv, sie nur anzusehen. Hinter den geschlossenen Lidern warteten ihre runden, wässrigen Augen, mit denen sie ihn in letzter Zeit immer so missbilligend ansah. Und das würde jetzt schlimmer werden, viel schlimmer. Aber das Unglück, das über die Familie gekommen war, war doch nicht seine Schuld! Nur, dass Judith das wohl anders sehen würde. Die Frage, wie sie mit Milenas ungebührlichem Verhalten umgehen sollten, hatte zuletzt mehr und mehr zwischen ihnen gestanden.
In der Diele zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche, starrte einen Moment darauf und steckte es wieder ein. Er würde sich sowieso noch gute Begründungen für das eine oder andere Telefonat ausdenken müssen. Die Polizei stand noch ganz am Anfang ihrer Ermittlungen. Immer eins nach dem anderen, dachte er. Die Kontrolle behalten. Ein erster Schritt war, dass er seine Tochter noch einmal sehen wollte, so schmerzhaft das auch sein würde. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Und er sollte sich irgendwie von ihr verabschieden, sonst würde ihn ihr vorwurfsvoller Blick noch bis in seine Träume verfolgen.
»Hier«, sagte Irma und stellte die bauchige Teekanne auf den Tisch. Sie schenkte ihrem Mitbewohner großzügig ein.
Der Geruch gammeliger Kräuter stieg Patrick in die Nase. Er schob den Becher angewidert von sich. »Ich trink dieses Gebräu nicht, Irma. Wie das schon riecht.«
»Das ist Tee mit Johanniskraut, Baldrian und ein paar Himbeerblättern. Beruhigend und stimmungsaufhellend.«
»Stimmungsaufhellend – du hast sie ja nicht mehr alle.«
»Nun reiß dich mal zusammen!«, herrschte sie ihn an.
Patrick zuckte. Er wusste nicht, wieso, aber Irma hatte etwas an sich, das ihm Respekt einflößte.
»Glaubst du, mir gefällt, dass Milena tot ist?«, fragte sie ihn. »Dass in meinem Garten ein Mord passiert ist?«
»Du denkst doch immer nur an das Haus, Irma. Weißt du, was es ist? Eine Todesfalle! Wenn Milena
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