Ostseefluch
Was wollte sie sich denn beweisen? Dass sie niemanden brauchte? Sie würde jetzt gern Lars anrufen. Vielleicht hatte er ja Zeit und Lust vorbeizukommen. Er war noch nie in ihrer Wohnung gewesen. Möglicherweise würde er ja einen Schock bekommen. Sie sah sich prüfend um: Es war nicht aufgeräumt. Und Lars war der Typ, den man sich in einer super gestylten Wohnung vorstellte. Pia dachte an seine schöne Agentur mit Blick auf die Trave – und an ihr eigenes Büro: Behördenchic in Beige-Grün-Braun. Egal.
Lars meldete sich nach dem dritten Klingeln. Sie erzählte ihm in groben Zügen, was tagsüber auf Fehmarn passiert war. Ihr Herz klopfte dabei fast wieder so sehr wie in dem Moment, als sie die Nachricht von Zoes Verschwinden erhalten hatte.
»Ihr habt das Kind tatsächlich gefunden? Und was ist jetzt?«, fragte Lars, als sie geendet hatte.
»Ich glaube, es ist noch mal gut gegangen. Der Kleinen ist nichts passiert.«
»Ich meinte, wie geht es dir?«
Sie schluckte. »Ganz gut. Es ist nur ... Hast du Lust vorbeizukommen?« Es entstand eine Pause, und Pia verfluchte sich schon dafür, ihn gefragt zu haben.
»Bist du dir sicher?«
»Ja. Nein. Keine Ahnung.«
»Das ist unwiderstehlich, Pia. Gib mir eine halbe Stunde, okay?«
Als sie das Gespräch beendet hatte, atmete sie tief durch. Also wieder anziehen: etwas Luftiges. Haare föhnen. Nicht lange über Unterwäsche nachdenken. Das brachte Unglück.
Sie hatte sich gerade ein Sommerkleid über den Kopf gezogen und überlegte, ob sie nicht doch lieber Jeans anziehen sollte, als es an der Tür klopfte. Sie sah auf die Uhr. Es waren noch keine zwanzig Minuten vergangen. Lars war früh dran.
Pia lief barfuß durch den Flur. Sie fuhr sich noch einmal mit der Hand durchs Haar und öffnete dann die Wohnungstür.
32. Kapitel
W as wollen Sie denn hier?« Vor ihr stand der Kammerjäger Hauke Andersen. Er war offenbar genauso irritiert wie sie.
»Sie? Haben Sie mich anrufen lassen? Sie sind doch von der Polizei. Ich versteh das nicht«, sagte er nervös.
»Richtig. Ich war gestern mit einem Kollegen bei Ihnen. Aber ich habe Sie bestimmt nicht anrufen lassen. Woher haben Sie überhaupt meine Privatadresse?«
»Die hat mir der Typ am Telefon genannt. Es geht um den Mord an meiner Familie. Es soll neue Beweise geben.« Er klang nun, nachdem sich seine erste Überraschung gelegt hatte, verärgert.
Pia musterte ihn. »Der Mord an Ihrer Familie? Können Sie da etwas konkreter werden?« Sie ärgerte sich sofort über sich selbst. Was fragte sie überhaupt nach? Der Mann hatte nichts vor ihrer Tür verloren, egal, um welche Angelegenheit es sich handelte.
»Natürlich wissen Sie das!«, fuhr er sie an. »Der Mordkuhlen-Fall. Es war meine Familie. Ich bin das Kind, das überlebt hat.«
Pia sah ihn erstaunt an. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Kommen Sie morgen früh zu mir ins Kommissariat. Dann können wir reden.«
»So geht das nicht«, sagte er wütend. »Das lasse ich mir nicht bieten. Nicht in dieser Sache! Ich bin extra heute Abend noch hergekommen, weil mir Informationen versprochen worden sind. Beweise.« Er trat einen Schritt vor.
Pia stellte sich ihm in den Weg. Maß gedanklich schon mal den Abstand zwischen ihnen und versuchte einzuschätzen, wie Hauke Andersen auf einen Rausschmiss reagieren würde. Er wirkte aufgebracht. Nichtsdestotrotz schien er nicht sonderlich aggressiv zu sein. Aber da konnte man sich leicht täuschen. Und Täuschungen in dieser Hinsicht waren meistens verhängnisvoll. »Hören Sie, Herr Andersen. Wir werden das aufklären. Aber nicht in meiner Wohnung. Kommen Sie morgen um neun zu mir ins Kommissariat 1 in der Possehlstraße.«
»Was soll ich da? Die Polizei hat doch damals mitgeholfen, alles zu vertuschen«, stieß er hervor. Er trat noch einen Schritt näher.
Pia schob ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Beruhigen Sie sich bitte, Herr Andersen. Sie alarmieren sonst das ganze Haus. Der Mann, der unter mir wohnt, hat Ohren wie ein Luchs, und er mag überhaupt keine Ruhestörungen.« Bei dem Gedanken an Andrej, den friedlichsten Nachbarn, den man sich vorstellen konnte, musste sie ein Grinsen unterdrücken. Besser, die Situation im Vorfeld deeskalieren, bevor Andersen sich noch in etwas hineinsteigerte ...
»Wer zum Teufel hat mich denn angerufen?«, beharrte er. In seinem Gesicht hatten sich hektische rote Flecken gebildet.
»Das werden wir herausfinden. Morgen.« Sie schob ihn noch ein Stück zurück, bis über die Schwelle, und
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