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Ostseefluch

Titel: Ostseefluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Almstädt
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Mikrowelle geschoben hatte, öffnete er den Umschlag. Eine DVD fiel ihm entgegen. Andersen betrachtete sie von allen Seiten und schaute noch mal in den Umschlag: keine Beschriftung, kein Begleitschreiben, nichts. Er ging in den Wohnbereich seiner kleinen Wohnung und schob die silberne Scheibe in den DVD-Player. Wahrscheinlich Werbung, dachte er. Oder kam das Ding von einem potenziellen Kunden, der den Schädlingsbefall gleich dokumentiert hatte? Das wäre mal was Neues.
    Es flimmerte und zuckte auf dem Fernseh-Bildschirm. Dann ein Schwenk über eine Menschenmenge. Die Qualität des Filmmaterials war miserabel. Es dauerte einen Moment, bis Andersen klar wurde, warum die Bilder so seltsame Farben hatten und die Bewegungen so abgehackt erschienen. Es handelte sich um eine alte Filmaufnahme. Normal 8 oder Super 8? Den Autos nach zu urteilen, die am Rande eines Festplatzes abgestellt waren, stammte die Aufnahme aus den frühen Achtzigerjahren. Golf 1, Opel Kadett, Ford Escort ... Und was die Leute da anhatten! Die Kamera streifte ein Banner, das über dem Festplatz hing:
    Kinderfest 1985 – Weschendorf
    Andersens Herzfrequenz erhöhte sich. Ein dummer Streich? Ein gemeiner Schabernack? Sollte er das Gerät gleich wieder abstellen? Oder enthielt die DVD eine wichtige Information? Selbst wenn er es gewollt hätte, die alten Bilder zogen ihn in ihren Bann, als die Kamera auf eine Kindergruppe zoomte, die vor einer Zielscheibe stand. Ein Junge von etwa zwölf Jahren hob einen am Seil befestigten Holzvogel mit einem Dorn statt eines Schnabels. Er zielte, ließ los und der Vogel verschwand aus dem Blickfeld. Die Kameraaufnahme glitt in langsamer Fahrt über die Kindergesichter. Alles Jungs.
    Hauke Andersen hatte die Luft angehalten, doch nun atmete er zischend aus. Seine Schwestern waren in diesem Jahr neun und sieben Jahre alt gewesen. Er fragte sich, ob er sie erkennen würde, denn er besaß nur wenige Fotos von seiner Familie, und auch die hatte er sich lange nicht mehr angeschaut. Warum sollte er auch? Vorbei war vorbei. Wäre seine Pflegefamilie nicht so ein Desaster gewesen, hätte er sich wahrscheinlich nie für seine wahre Herkunft interessiert. So hatte er sich als Junge das verlorene Paradies zusammenfantasiert. Und neulich, als er den ersten Auftrag aus Mordkuhlen bekommen hatte, da war er wirklich neugierig gewesen ...
    Wer hatte ihm diese DVD zugesteckt? Und vor allem: warum? Die Kamera hatte nun eine Gruppe Erwachsener anvisiert. Eine Frau – sie war trotz der seltsamen Frisur und des altmodischen Kleides wunderschön – stand am Rand der mit Flatterband abgesperrten Spielfläche. Kurz zoomte der Kameramann – es war ganz bestimmt ein Mann – ihr Gesicht näher heran. War das ... seine Mutter? Andersen verwahrte ein Porträtfoto von ihr in der Schublade seines Nachtschrankes. Der schlanke Hals, das schmale Gesicht, die dominante Nase. Verdammt. Die Frau in dem Film war seine Mutter! Die sich bewegte, die in die Kamera lächelte. Die in die Kamera lächelte! Bis zu diesem Moment hatte er sich nicht einmal mehr an ihr Lächeln erinnert. Sie schenkte es dem Mann hinter der Filmkamera.
    Der Moment war vorbei. Der Film zeigte weitere Menschen auf dem Festplatz. Eltern, die den Kindern bei verschiedenen Wettbewerben zusahen, Männer in voller Schützentracht am Bierwagen, alte Frauen auf der Bank im Schatten. Und dann ... wieder eine Totale auf die Zuschauer. Dort stand sie, leicht zu erkennen in dem gelben Kleid. Sie leuchtete geradezu. Ein Mann trat zu ihr. Hauke Andersen wusste, dass das nicht sein Vater war. Er hatte sich die wenigen Fotos, die er besaß, oft genug angeschaut. Der Mann war groß und breitschultrig, hatte dunkles Haar. Er schien sie anzusprechen. Sie drehte sich weg. Die Kamera verharrte noch einen Augenblick auf der Szene und schwenkte dann weiter, auf ein Kind, das Zuckerwatte aß. Kurz darauf kamen der Mann und die Frau im gelben Kleid wieder ins Bild. Sie redeten miteinander. Obwohl der Ton fehlte, konnte er deutlich sehen, dass sie sich stritten. Die Frau sah sich immer wieder besorgt um. Da fasste der Mann sie mit einer besitzergreifenden Geste am Oberarm. Sie wollte sich abwenden, doch er hielt sie fest. Er schien sie schütteln zu wollen ... Nicht sein Vater! Ein mit Blumen geschmückter Wagen, der von zwei Haflingerponys gezogen wurde, rollte ins Bild. Der Film endete abrupt.
    Verdammt.
    Was sollte das?
    Hauke Andersen trank einen Schluck Bier. Setzte sich langsam auf die Couch. Trank

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