Ostseefluch
herauszubringen.
Keine Antwort.
Sie kam sich schon lächerlich vor, doch da tauchte eine schemenhafte Gestalt neben den Tannen auf und verharrte dort. Herr Jesus Christus, hilf mir!, betete Judith stumm.
Die Hunde hatten aufgehört zu bellen. Die Grillen begannen wieder zu zirpen. Eine laue Sommernacht. Bis auf ... das da. Es schien sie zu belauern. Wartete.
War er gekommen, um sie zu holen? Ich bin nicht vorbereitet!, schoss es ihr durch den Kopf. Nein! Es rührte sich nicht.
Sie stützte sich auf den Spatenstiel und stand langsam, ganz langsam auf. Ihre Knie waren butterweich und trugen sie kaum. »Hallo?«, fragte sie in die Dunkelheit. Ich grüße dich, Satan, der du gekommen bist, um meine unsterbliche Seele zu holen, dachte sie und hätte beinahe hysterisch zu kichern begonnen. Herr Jesu Christ, erbarme dich mir armer Sünderin! Es hieß doch, dass der Tod kommen würde wie ein Dieb in der Nacht. Man solle immer vorbereitet sein. Das war sie nicht. Ganz und gar nicht!
Da bewegte es sich, kam direkt auf sie zu. In menschlicher Gestalt, ohne Zweifel. Satan konnte einem in jeder Gestalt gegenübertreten, nicht wahr?
»Nicht erschrecken, bitte!«, hörte sie eine männliche Stimme.
Judith erkannte einen Mann, der absolut nichts Satanisches an sich hatte. Er sah ... harmlos aus. Unsicher. »Sie haben mich gerade zu Tode erschreckt!«, fuhr sie ihn an.
»Tut mir leid. Bei Ihnen im Haus hat mir niemand geöffnet. Da dachte ich, ich schau mal nach, ob jemand im Garten ist. Ich habe Sie stöhnen gehört.«
»Oh. Wirklich? Ich muss ein paar Gartenabfälle entsorgen. Ein guter Platz, unter den Tannen ...«
»Gartenabfälle?«
»Und wer sind Sie?«, fragte Judith barsch. Die freundlich klingende Stimme hatte ihre Angst in Ungeduld umschlagen lassen. Sie war nur noch ... unangenehm überrascht. Und sie musste diesen Kerl schnell wieder loswerden.
»Mein Name ist unwichtig.« Er streckte die rechte Hand vor. »Aber vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Was wollen Sie hier?«
»Mit Ihnen reden. Über ... das Haus im Hainbuchenweg.«
»Mordkuhlen. Ich rede nicht über Mordkuhlen!«, sagte Judith mit vor Entrüstung kratziger Stimme. »Sie sind bestimmt von der Zeitung. Scheren Sie sich weg!«
»Ich schreibe nicht über Ihre Tochter«, erwiderte er mit sanfter Stimme. »Ich möchte über etwas anderes reden.«
»Aber ich nicht mit Ihnen.«
Ehe sie sich’s versah, hatte er ihr den Spaten aus der Hand genommen und begonnen, mit kräftigen Bewegungen die Erde im Grunde des Lochs zu lockern. Ja – so wäre die Arbeit in zehn Minuten erledigt. Sie ließ ihn gewähren, einen Moment nur.
»Wofür ist das Loch?«, fragte er.
»Ich sagte doch schon, für Gartenabfälle. Und nun gehen Sie, bevor ich meinen Mann oder die Polizei rufe.«
Er hob den Spaten ein wenig an und trat einen Schritt von ihr zurück. »Wo ist Ihr Mann?«
»Wo wohl? Bei seiner Geliebten«, stieß sie hervor. Wieso offenbarte sie diesem Fremden, was sie sonst niemandem anvertrauen würde? Lag es an der dämmrigen Stille zwischen den hoch aufragenden Stämmen der Tannen? Der fast sakralen Atmosphäre, die an eine Beichtsituation erinnerte?
»Er hat eine Geliebte?«, hakte der Fremde nach. Er klang geradezu entsetzt. »Ja, liebt er Sie denn nicht?«
»Verschwinden Sie!«, herrschte sie ihn an. Sie traute sich nicht, einfach wegzugehen, weil sie ihm dann den Rücken zukehren müsste. Er schwang den Spaten in einer Hand leicht hin und her. Dabei musterte er sie mit einem seltsam intensiven Blick. Es sah so aus, als schätzte er die Entfernung zwischen ihnen ab. Dann kam er noch einen Schritt näher.
»Er liebt Sie nicht«, wiederholte er mit kalter Stimme. »Wer weiß ... ich könnte ihm einen Gefallen damit tun.«
Sie wich langsam vor ihm zurück, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Sollte sie um Hilfe rufen? Zwecklos. Ihre Nachbarn waren alle halb taub und saßen um diese Uhrzeit vor dem Fernseher. Sie würde nur ihre Kraft verschwenden.
Kraft, die sie vielleicht noch brauchte ...
»Wo ist Ihr Mann?«, fragte der Fremde. Mit einem Mal klang seine Stimme drohend.
Judith drehte sich um und rannte so schnell, wie sie seit dreißig Jahren nicht mehr gerannt war.
Nach der Frühbesprechung im Kommissariat am nächsten Morgen fuhren Pia und Manfred Rist gen Norden. Sie hatten die Aufgabe übernommen, Milena Ingwers’ Freunde aus der Zeit vor ihrem Umzug nach Mordkuhlen zu befragen.
Nachdem die junge Frau dort eingezogen war, war sie den
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