Ostseefluch
wie möglich das Gespräch.
»Ich fand ihn nett. Ihren Kollegen. Deshalb habe ich ihn angerufen und nicht die Eins-Eins-Null. War das in Ordnung?«
»Was wollten Sie meinem Kollegen Broders denn nun sagen?«, fragte Pia.
Judith Ingwers zog ein Stofftaschentuch aus dem Ärmel und putzte sich geräuschlos die Nase. Als sie sie wieder ansah, hatte ihr Gesicht einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Sie würde doch nicht etwa zugeben, dass sie ... Pia merkte, dass sie sich vor Anspannung völlig verkrampft hatte, und versuchte unmerklich, die Schultergelenke zu lockern.
»Ich war gestern noch spät im Garten. Es war schon dunkel. Da hat mich ein Mann überrascht.«
Das war nicht das, was Pia erwartet hatte. Überhaupt nicht. »Wer war das?«
»Das ist es ja«, sagte Judith Ingwers mit einem Stöhnen. »Ich weiß es nicht. Wirklich! Ich hatte ihn noch nie vorher gesehen. Ich meine, es war so dunkel, ich konnte nicht viel erkennen, aber auch die Stimme war mir vollkommen unbekannt.«
»Was wollte dieser Mann?«, fragte Rist.
»Auch das weiß ich nicht. Er hat sich angeschlichen, als ich gerade unter den Tannen war. Zum Glück hatten die Hunde angeschlagen, sonst hätte ich wohl einen Herzanfall bekommen.«
»Was hat er gesagt?«
Judith Ingwers gab das Gespräch in abgehackten Sätzen wieder. Es klang, als hätte sie es irgendwo abgespeichert und könnte es jetzt einfach abrufen.
»Haben Sie sich von ihm auch körperlich bedroht gefühlt?«, wollte Pia wissen.
»Ja, schon. Ich war ja ganz allein. Und er hatte den Spaten.«
»Können Sie sich vielleicht doch an irgendetwas erinnern, das uns bei der Identifizierung hilft? Größe, Statur, Haarfarbe, Besonderheiten?«
»Er war normal groß, vielleicht ein Meter achtzig. Und er hatte eine durchschnittliche Figur. Mehr weiß ich nicht. Seine Stimme klang eigentlich ... nett«, sagte sie ratlos.
Rist, der sich ein paar Notizen gemacht hatte, klappte den Block zu. »Falls Sie ihn wiedersehen oder sich doch noch an etwas erinnern, rufen Sie uns bitte an!«
»Und wenn er wiederkommt?«, fragte Judith Ingwers ängstlich.
»Halten Sie das Haus geschlossen – und am besten keine einsamen Aufenthalte mehr draußen im Dunkeln. Zumindest so lange nicht, bis der Fall geklärt ist.«
»Glauben Sie denn, dass es Milenas Mörder war?«
»Wir wissen einfach noch nicht genug, Frau Ingwers. Vorsichtig zu sein ist der beste Rat, den wir Ihnen geben können.«
Judith Ingwers starrte Manfred Rist unzufrieden an. Was erwartete sie? Polizeischutz?
»Was haben Sie eigentlich so spät abends im Garten gemacht?«, fragte Pia.
»Gartenarbeit.«
»Im Dunkeln?«
Zu Pias Überraschung schossen Judith Ingwers die Tränen in die Augen. »Das ist alles meine Schuld«, schluchzte sie.
»Was ist Ihre Schuld?«
»Ich hab vergessen, den Fuchs wieder in die Gefriertruhe zu legen. Ich habe einen toten Fuchs, den ich mitnehme, wenn ich mit den Hunden trainiere. Damit er länger hält, friere ich ihn nach dem Training immer wieder ein. Ich muss ihn rechtzeitig aus der Truhe holen, und manchmal föhne ich das Fell sogar trocken ... Dann haben die Hunde es einfacher. Aber an dem Tag, als Milena ermordet wurde ... Stellen Sie sich vor, da hab ich den Fuchs nach dem Hunde-Spaziergang im Wagen vergessen.«
»Wussten Sie es da schon? Dass Ihre Tochter tot war?«
»Äh ... Nein, als ich zurückkam, wusste ich es noch nicht«
Pia nickte nachdenklich. »Und dann?«
»Der Fuchs fing an zu stinken. Ich kann ihn nicht mehr benutzen. Und der ganze Land Rover riecht jetzt nach Aas.« Sie knetete nervös die Hände, ihr Atem ging schwer. »Mein Mann hat es entdeckt. Er war wütend deswegen. Gestern Abend wollte ich den Fuchs dann im Garten verbuddeln. Die Nachbarn sollten mich nicht dabei sehen. Sie sind nicht gut auf die Hunde zu sprechen, wissen Sie. Und dann kam auch noch dieser Fremde ...« Sie fing an zu weinen und konnte gar nicht mehr damit aufhören. Die Erlebnisse der letzten Tage waren sichtlich zu viel für sie.
»Sie braucht einen Arzt«, sagte Pia leise zu Manfred Rist. »Wir müssen ihren Mann verständigen. Oder den Hausarzt. In diesem Zustand können wir sie jedenfalls nicht allein lassen.«
12. Kapitel
N achdem sie Judith Ingwers in der Obhut ihres Mannes zurückgelassen hatten, klapperten Pia und Rist noch mehrere Namen auf der Liste von Milenas Freunden ab. Zwei trafen sie nicht an, und die dritte Freundin war weitaus weniger auskunftsfreudig, was ihre Zeit mit Milena betraf,
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