Ostseeliebe
berichtete. Und, auf Julias ungläubiges Staunen hin: »Das haben die Kannibalen früher so gemacht, um sich die Kraft eines anderen Menschen einzuverleiben. Könnte Ihnen nicht schaden.«
Der Regen begann eher als in anderen Jahren. Ganz plötzlich war es auch früher dunkel geworden, Ilja, der Sprosser, war von einem Tag auf den anderen verschwunden, und Julia hatte ihren Nachmittagsspaziergang vorverlegen müssen, um eine halbe Stunde. Sie liebte diese langen Gänge, parallel zum Ufer, wo sie das Meer rauschen hörte, aber nicht sah, weil der dichte Wald das Steilufer säumte. So mußte sie nicht hinsehen, konnte ungestört ihren Gedanken nachhängen und hatte das Gefühl, daß ihr Kopf allmählich freier und freier wurde. Sie ging sich lüften, sie ging, um Papiergeruch und die Enge geschlossener Räume zu vertreiben, Arme und Beine schlackern zu lassen beim Gehen, und verwundert hatte sie festgestellt, daß sie es jeden Tag ein wenig weiter schaffte, jeden Tag rückte die Vogelhalbinsel ein wenig näher, auf der im Frühjahr Kormorane und Gänse nisten würden. Trotzdem zog es sie jetzt nicht dorthin, so wie sie auch niemals den Weg zur Heidelandschaft im Süden der Insel suchte, einem Flecken, der jetzt leuchten mußte in Lila- und Blautönen. Aber Julia wollte gar nicht überwältigt werden, sie wollte einfach nur gehen. Sie fand Freude an der Bewegung, allmählich auch Freude an sich selbst. Schon lange geriet sie nicht mehr außer Atem, wenn sie, den Höhenweg hinauf, ihren Spaziergang begann. Sie kam auch jedesmal ein wenig früher am einzigen Getränkeladen der Insel vorbei. Bisweilen traf sie dort jetzt auf Iris, die schüchterne junge Frau, die bei Marianne Brant im Föhrenwald arbeitete. Mit erstaunlicher Zähigkeit zog sie einen Handkarren bergan, in dem sich Getränkekisten befanden. Julia blickte ihr dann nach, sah, wie die gebückte kleine Gestalt
sich allmählich dem Waldrand näherte. Wie schaffte die das nur, so schwere Arbeit, wo ihr doch das schiere Leben schon zu viel sein mußte? Julia stellte sich vor, daß oben am Wald Iris’ Mann auf sie warten würde - »geduldig«, dachte sie sogleich und merkte, daß sie mit den beiden immer Märchenphantasien verband. Zwei kleine verzauberte Stadtbewohner, gefangen von einer bedrohlichen Macht. Nie sprach sie Iris an.
Sie selbst freute sich darüber, daß sie inzwischen den Getränkeladen mühelos links liegen ließ. Nein, sie brauchte keine zwei, drei Dosen Bier mehr zum Einschlafen - zum ersten Mal seit dem Bruch mit Hal.
»Hal! Wenn ein ganz gewöhnlicher Harald aus Bottrop sich schon ›Hal‹ nennt!« hatte Jeanette gestöhnt. »Nicht einfach Harald oder meinetwegen Harry, nein, Hal mit diesem idiotischen, langen‚ möglichst amerikanischen ›o‹, wahrscheinlich, weil man ihn sonst so schnell vergessen würde, wie es eigentlich angebracht wäre.«
Jeanette hatte nichts von Hal gehalten, gar nichts, und sie hatte mit einer für sie ungewöhnlichen Parteilichkeit gleich mit dem begonnen, was sie »Wegbeißen« nannte. Es hatte natürlich nichts genutzt. Julia und Hal wurden ein Paar - und zwar ein so unglückliches, wie es nur sein kann. Julia schüttelte sich noch immer bei der Erinnerung. Sie war sich selbst fremd geworden in dem halben Jahr mit Hal. Feige und egoistisch und gemein. Gemein aus Ängstlichkeit. Es war lange vorbei. Und hier brauchte sie nun endlich keinen Schlummertrunk mehr.
An diesem Tag mußte sie zum ersten Mal umkehren, weil es zu regnen begann. Der Küstershund knurrte sie an, als sie vorbeiging. Sie wußte nicht, ob ihn ihre Eile ärgerte oder ob er ganz allgemein schlechte Laune hatte - wegen des Regens womöglich. Wie oft hatte sie sich in Bielefeld Gedanken
darüber gemacht, ob Hunde Regen mögen oder nicht? Julia beschleunigte ihren Schritt. Der Regen wurde heftiger, auch der Wind nahm zu. Das Wasser klatschte mit Schwung gegen ihre rechte Schläfe, gegen die Wange, Regenohrfeigen, die sich gewaschen hatten. Julia zerrte an der Kordel, die die Kapuze enger schloß, und sofort wurden ihre Finger eiskalt. Sie rannte fast, als sie in den Weg zum Ladesteinhaus einbog, und als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, dachte sie: endlich zu Hause!
Sie träumte. Sie träumte von einer Klassenkameradin, die sie seit der Mittelstufe nicht mehr gesehen und auch nicht vermißt hatte: Susanne Ahrens. In ihrem Traum spielte die dickliche Susanne, die eine merkwürdig hochgetürmte Kurzhaarfrisur getragen hatte - das
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