Ostseeliebe
vielen Tannen, Fichten und übermannshohen Rhododendren. Sie beobachtete die Mücken bei ihrem letzten verzweifelten Tanz, bevor es viel zu kühl für die Insekten wurde. Sie beobachtete septemberschwere Hummeln und Wespen, die sich erschöpft vom Nektarsammeln auf dem Heimweg befanden. Die Vögel zogen sich in das Dunkel der Tannen zurück. Amseln durchsuchten das Reisig. Julia drohte einem Sprosser spaßeshalber mit dem Finger. Was hatte sie der Vogel an ihrem ersten Tag gefoppt! Sie hatte geglaubt, unter ihrem Fenster lebte eine ganze Armada von Singvögeln, in Wahrheit hatte es sich lediglich um diesen einen, eher unauffälligen gelbbraunen Burschen gehandelt, der aber in der Lage war, viele andere Vogelarten perfekt zu imitieren, ein Ausgleich vielleicht für die offensichtliche Artenarmut auf der Insel? Julia sah den Sprosser jetzt oft und hatte ihm auch einen Namen gegeben: Ilja. Ilja wie der Schnellsprecher aus der ersten Musiksendung des Fernsehens. Ilja-aus-dem-Schlehenbusch. Frau Bult hatte ihr erzählt, daß die Sprosser erst zu Beginn des Jahrhunderts
auf die Insel gekommen waren, etwa gleichzeitig mit den ersten Urlaubern, niemand wußte genau woher. Nun bevölkerten sie das Unterholz und die stachelbewehrten Beerenhecken: kleine, untersetzte, sandfarbene Vögel mit spitzen gelben Schnäbeln und unschuldigen runden Augen. Das Wasser kochte. Den Tee brühte Frau Bult auf, das war ein heiliges Ritual, so viel hatte Julia begriffen, und sie stand daneben und beobachtete Frau Bults flinke und sichere Bewegungen.
16. September
Hi, Sweety!
Na, Dich hat’s ja schön erwischt. Ich meine selbstredend die Insel, Gnädigste! Obwohl ich schon sagen muß, daß Du auf Deinen Tierarzt, diesen »inselbekannten Rüpel«, ziemlich viel Gehirnschmalz verwendest! Na, besser Gehirnschmalz als Herzschmerz, gell? Hier ist weder noch, alles verläuft in vertrauten Bahnen, und ich habe die Hoffnung aufgegeben, daß Kronauer mal einen Assi einstellt, der weder schielt noch dreißig Pfund Übergewicht auf die Waage bringt. An uns denkt mal wieder keiner. Du verpaßt also nichts, ehrlich nicht, und der Kongreß für Literaturwissenschaft findet nächstes Jahr ausnahmsweise auch nicht bei uns, sondern ausgerechnet in Essen statt. Hat allerdings den Vorteil, daß ich mich mittlerweile intensiver um die Heimatdichter an der Mosel kümmern kann.
Du hast unverschämtes Glück mit Deinem Ladestein, ich gebe zu, daß mich regelrechte Anwandlungen von Eifersucht überkommen. Außerdem: Ich stelle mir vor, wie Du Tag für Tag in Deiner kleinen Gedenkstätte nach oben in den dritten Stock kletterst (Du schreibst tatsächlich von einer »hölzernen Stiege«!), um sodann Deinem Dichter ordnend und
katalogisierend zu dienen. Welch ein Luxus, meine Liebe! Was für ein Privileg! Richtige Kartons, so mit Staub und allem Drum und Dran und richtige Briefe! Auch wenn Du zur Zeit noch nicht zum Lesen kommst, so hältst Du sie doch in Händen. Die Aufregung, die Du dabei empfindest, kann ich gut verstehen. Wie wirst Du vorgehen? Willst Du sie erst einzeln abheften, chronologisch sortieren und dann lesen? Ich glaube, das würde ich nicht aushalten. Du schreibst, daß sie in gutem Zustand sind. Wer hat sie denn aufbewahrt? Wer weiß, vielleicht stehen irgendwelche Schweinereien drin? Pornografische Zeichnungen oder so? Nun guck nicht so empört, aus mir spricht der blanke Neid. Denn ich für meinen Teil, meine geliebte Insulanerin, sehe mich jeden Morgen zu nachtschlafender Zeit (also gegen zehn) Aug’ in Aug’ mit meinem höchst unwilligen grauen, kalten PC, lese die nicht sehr zahlreichen E-Mails von irgendwelchen Langweilern aus Massachussetts oder so und bastele dann den Rest des Tages an einer Homepage für den Romanistischen Fachbereich. Ja, » Home page«! Mein Gott, das ist doch nicht mein Zuhause hier! Trotzdem: In diesen Dingern liegt die Zukunft, ich sage es Dir! In den USA ist es längst üblich, nur noch online miteinander zu kommunizieren, und hier predige ich täglich, daß wir uns darum kümmern müssen - dringend! Das hat natürlich auch zur Folge, daß sämtliche entsprechenden Arbeiten an mir hängenbleiben. Habe ich je »hier!« gerufen, als nach unterforderten Mitarbeiterinnen gefragt wurde?!? Bestimmt bin ich eine der ersten Anwärterinnen für diese neuen, seltsamen »Mouse-Krankheiten«, oder ich werde allergisch auf das Summen von diesem Microsoft-Programm ... Oder ist es gar die »Benutzeroberfläche«?
Dann müßte
Weitere Kostenlose Bücher