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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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intensiv, daß ihr die Begegnungen des Tages oft seltsam verwischt erschienen.
    Anne Bult und Ladestein, das waren die Menschen, zu denen sie Kontakt pflegte; daß der eine, der Dichter, schon über fünfzig Jahre tot war, änderte daran nichts.
    Malvine, meine Sommerliebe, mein Sonnenkind,
meine Zauberin,
Die Dünen ein hauchzartes Kleid überstreift aus
Sanftheit und Licht,
Denn das bist doch du, Malvine,
Die den Sommer ermatten ließ vor vergeblicher
Sehnsucht,
Deren Schiffe anlegen und keuchen bloßen Dampf
aus rußigem Schornstein:
Malvine.

    Malvine, Malvine, Säuseln messerscharf, Flüstern im
August:
Wie brennt mir deine Hitze in staubtrockenen
Knochen noch!
Du hast mich versengt verbrannt mit deinen
steinklaren Augen,
Und wie hochmütig tragen dich deine Beine davon,
Winken langschlanke Finger mir einen gleichmütigen
Gruß,
Du weißt nichts Malvine .

    Malvine, ach Malvine, Strandkönigin, Tandkönigin,
Mädchen im Harnisch,

Goldfarbene Haare blitzen, trägst einen kostbaren
Helm,
Stichst um dich mit Gescheitheit und verletzt
zweisprachig mit Aperçus,
Und sammelst um dich und zerstreust und führst in
Blindheit und Not,
Was für ein unheiliger Apostel du bist
Und tanzt
Und sprichst mir kein Wort, Malvine.
    Sie hatte das Blatt an einem verregneten Abend gefunden, in einer Kiste, in der sie eher wahllos ein wenig herumgefischt hatte. Sie war ungeduldig, ein wenig unlustig geworden, denn allmählich wollte sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen, mit dem Lesen und Auswerten, statt wie bisher nur Kiste um Kiste zu öffnen, Briefe nach Daten zu sortieren - so weit vorhanden - und jeweils ein paar einfache Stichworte dazu zu notieren (»Berlin, Frühjahr 1919« oder »Aus Stralsund, wahrscheinlich 1920« oder »An Markwart«). Und nun das. Das Blatt, chamoisfarben, in feinen Linien, hatte einfach hervorgeragt aus einem halbwegs sortierten Stapel, vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet - jedenfalls hatte sie zugegriffen, und da saß sie nun, mit diesem Liebesgedicht auf dem Schoß. Sie war verblüfft, verwirrt. Das klang so gar nicht nach ihrem Hansjörg Ladestein. Die Reime fehlten und auch die Ironie, aber das war es nicht, was sie so irritierte.
    Es war die Sehnsucht, die aus den Versen sprach, eine Sehnsucht, die keinen Reim mehr braucht. Durch diese Unbekannte hatte Ladestein von seinem bisherigen Schreibstil Abschied genommen, er hatte alles Gelernte einfach über Bord geworfen. Offenbar hatte ihn bei der Niederschrift nicht gekümmert, ob er dieses Gedicht je würde vortragen können, wie er’s bei allen anderen Texten zweifellos gehalten
hatte. Dieses Gedicht war auf keine Pointe hin geschrieben, jeder Vers mündete einfach wieder in den Namen der offenbar geliebten Frau. Malvine! Julia hatte den Namen noch nie gehört, er kam, so weit sie informiert war, auch in der Korrespondenz nicht vor. War es womöglich ein Deckname?
    Mit ihren philologischen Überlegungen kam Julia nicht weit. Sie hatte hier auch nur wenig Möglichkeit zur Recherche, wie sie sich sagte. Das konnte sie getrost auf morgen verschieben, auf ein Fax vielleicht an ihre Fakultät, mit der Bitte, im - allerdings erst sehr notdürftig bestückten - Stichwortverzeichnis, das sie selbst angelegt hatte, nach dem Namen »Malvine« zu suchen, einer Frau, die offenbar blonde Haare hatte und Tänzerin war. In diesem Augenblick faszinierte Julia eher diese geradezu weibliche Zartheit und Wehmut, die aus Ladesteins Versen sprach. Ein Wunsch nach der Liebe, die auch in ihr eine Saite anrührte.
    Julia sprach normalerweise von »Beziehungen«, »Liebschaften«, »Ehen« und »Freundschaften«, von Bündnissen also, die einen gewissen Zweck erfüllten, bei vollem Verstand geschlossen wurden und realistischerweise auf Zeit. So war Ladesteins Liebe nicht. Ladestein träumte von einer Frau, die anscheinend nicht einmal das Wort an ihn richtete, und er träumte von ihrer Zuwendung, so, als bedeutete diese Erlösung für ihn. Woher nahm er nur so viel Vertrauen in eine andere Person? »Aber sprich nur ein Wort...«, Ladestein kannte offenbar sein Evangelium.
    Es hatte einen Namen. Malvine.
    Julia strich den Bogen sorgfältig glatt, dann drückte sie ihn an sich, mit einer Zärtlichkeit, die sie selbst überraschte. Am liebsten hätte sie ihn eingesteckt. Gut, daß sie niemand beobachtete.
    »Warum haben sie ihn nicht einfach aufgegessen?« scherzte Frau Bult, als Julia ihr von dem Fund und ihrer Reaktion
darauf

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