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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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waren schmutzverkrustet wie immer, aber den stattlichen Haflingern mit ihren üppigen blonden Mähnen schien das nichts auszumachen, im Gegenteil. Ungeduldig warteten sie vor einem Haus, wenn Wagner abstieg, um die Müllsäcke einzusammeln und mit Schwung auf den Wagen zu werfen. Dann stampften sie mit den Vorderbeinen auf, warfen die Köpfe hin und her, und sobald Wagner aufstieg, trabten sie wieder los.
    Als sie an Julia vorbeikamen, schnaubten sie.
    »Mojn, Wagner!«
    Julia grüßte den Mann, wie ihn alle grüßten, und wie alle bekam auch sie keine Antwort. Ich bin ja schließlich nicht zum Vergnügen unterwegs, schien der Fuhrmann mit jeder Faser seines Ichs auszudrücken, und tatsächlich wurde er selten anders als arbeitend gesehen. Und wenn er nicht arbeitete, soff er. Bei Erika erzählte man sich, daß er den Sanddornschnaps, den er jede Woche im Laden kaufte, immer ganz allein zu Hause trank: drei Flaschen pro Woche, Literflaschen. Schon seine Mutter war eine inselbekannte Säuferin gewesen.

    »Was soll’s!« hatte Erika achselzuckend gesagt, während sie Preise in die Kasse hämmerte, ohne auf die Tastatur zu schauen, »jetzt liegt sie auf demselben Kirchhof wie die ganzen Heiligen!«

    Die »Heiligen«, das waren die Pastoren, von denen die meisten ihr gesamtes Dienstleben lang auf der Insel gearbeitet hatten. Durch Dauer erwarb man sich hier Respekt, und nur durch Dauer.
    Die Ponykutsche war um die Ecke verschwunden. Julia hatte sich schon den gleichmäßigen, wiegenden Gang der Inselbewohner angewöhnt. Vier Uhr.
    Im Dünenhotel wartete Renate, um sie mitzunehmen auf einen Saunagang. Der Gasthof war brandneu, errichtet von einem westlichen Investor, und zum Herbst auf der Insel gehörten, so hatte Anne Bult erklärt, die Saunaausflüge der Frauen am Mittwoch ebenso wie die Tatsache, daß der Milchmann mit seiner Fuhre nicht mehr zu den Kunden nach Hause kam:
    »Die Angelegenheit wird mir allmählich zu schmierig und zu wacklig«, hatte der Mann zur Erklärung gesagt und auf die gefährlich hoch aufgestapelten Holzkisten hinter ihm gewiesen, in denen Milch, Joghurt und andere Köstlichkeiten sortiert waren. »Bis zu Erikas Laden, das muß reichen!« Jetzt, im Oktober, da mußte man sich arrangieren. Das war die Lektion des Herbstes.
    »Zusammenrücken!« dachte Julia, die ein paar Schafe auf den Salzwiesen hinter Stiftsdorf beobachtete.
    Die Schafe sahen noch ganz proper aus, trotz des schlechten Wetters. Sie drängten sich zusammen gegen den Wind, Hintern an Hintern, dicht an dicht, mit langen schwarzen Strümpfen und schwarzen Gesichtern. Als Julia näher kam, setzte ein Mäh-Konzert an, wie es seit Kindertagen ihr Herz wärmte. Hier wurde das Land flacher, der Wind ging schärfer, Julia zurrte ihre Kapuze enger zusammen und schöpfte tief Luft. Konnte Luft gut schmecken, ja sättigend sein? In dieser Inselluft schwang so viel Meersalz mit, so viele Mineralien enthielt diese Brise, daß sie Julia geradezu fettig und reich schien. Sie leckte sich die Lippen. Das Land öffnete
sich. Hinten, am Horizont, konnte man die vorwitzigen Spitzen der Wellen weißlich im Nachmittagslicht glänzen sehen, die Fischerhäuser in Zwischendorf waren nur undeutlich zu erkennen, lose hingestreut zwischen Bodden und Straße. Der Himmel verschwamm in unendlich sanften Abstufungen von eher hellem Grau. Viele Grautöne hatte die Ostsee vorrätig, und sie waren weder düster noch deprimierend, sondern überzogen das Land mit einem milden silbrigen Schimmer, als schiene auch tagsüber der Mond. Der Asphalt glänzte dunkel und feucht, obwohl es heute ausnahmsweise noch nicht geregnet hatte.
    Julia passierte Godshorn, an der Hauptstraße traf sie Wagners Pferde wieder. Die warteten ungeduldig, aber nicht festgebunden, vor der einzigen Bank der Insel. Die Fuhre war leer. Wahrscheinlich holte sich Wagner Geld.
    Julia verließ den asphaltierten Fuhrweg und bog in die Heide ein. Die Gräserkissen quietschten vor Nässe, wenn sie darauf trat. Wacholderbüsche kauerten auf dem Boden wie kugelige Erdgeister. Bei Sonnenschein mußte hier alles festlich funkeln: das niedrige, violette Heidekraut; die tiefroten und gelben Blätter der Birken und Birnbäume, die glühenden Beeren der Tollkirschen und das satte Grün der vielen Moose. Aber nun war alles still und tief und dunkel, die meisten Tiere hatten die kleinen Wasserflächen der Heide bereits verlassen. Die Brandgänse hatten sich schon vor Wochen aufgemacht und waren in Scharen nach

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