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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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auch ein bißchen aus. Keine dreißig Jahre! dachte sie mit plötzlicher Ernüchterung. Keine dreißig Jahre. Sie war nicht wie Marga Niemann, sie hatte kein Talent für große Dramen, schon damals hatte sie insgeheim gewußt, daß es nicht allzu lange dauern würde, Lars zu vergessen. An Lars erprobte sie ein bis dahin unbekanntes Gefühl, und sie erprobte es auf ziemlich gefahrlose Weise, denn nicht einmal Lars selbst ahnte etwas davon.

    »Night after night/Your fingers caressing/The skin that is so fair you slowly undress/ Soon we will be together/Until then so cold the night...«

    Schneller Beat, der sich trotzdem einschmeichelte, ein elektronisches Tambourin, Percussion und vielleicht eine Oboe. Die blonde Bedienung schob sich mit so aufreizenden Bewegungen vorbei, als sei sie eine orientalische Schlangenbeschwörerin. Und irgend jemand schien tatsächlich irgendeinen Zauber angewandt zu haben, oder warum küßte eine junge Frau, die an der Theke lehnte, ihren Begleiter so heftig auf den Hals? Die Schwüle dampfte, die Atmosphäre machte schwindelig, machte zutraulich. Jan und Renate verdrückten
sich immer öfter dahin, wo’s dunkel war, und die Blicke, die Julia trafen, wurden mutiger. Der Beat klopfte in den Adern, sie summte die Melodie mit, sie wippte, ohne es selbst zu bemerken, allmählich wurde die komplette Bar zur Tanzfläche, auf der alle miteinander hin- und herwogten und immer lauter summten und die Männer den Frauen auf die Hüften starrten, auf die Beine. Das Falsett des Sängers schob sich metallisch das Rückgrat hinauf:

    »Soo-oon we will be toge-e-ether/Until then so cold the night/So cold the night...«

    Sie kippte die grüne Flüssigkeit hinunter, die ihr jemand in einem der kleinen Gläser gereicht hatte: Pfefferminzlikör, süß wie aufgekochte Schokolade, knirschend.
    Wie war das, zu warten, ohne ernsthaft auf eine Antwort hoffen zu können? Hoffnungsloses, unzerstörbares, unlogisches, tödliches Hoffen? Wenn aus dem Lebenselixier Liebe plötzlich eine mörderische Substanz wurde, etwas, das knebelte und fesselte und einem die Luft zum Atmen nahm - und Julia dachte, daß jedes Gefühl eine Antwort verdiente, daß man niemanden mit seiner Hoffnung ganz allein lassen darf, weil Hoffnung kraftvoll ist, stärker als der Mensch. Und weil sie ihn umbringen kann.
    Ihre Augen begegneten denen Hannos. Hatte er Englischunterricht gehabt in seiner DDR-Schule? Wohl nicht. Er schaute sie über ein paar Köpfe hinweg unverwandt an. Länger womöglich schon. Diesen Song lang zumindest. Und ohne zu überlegen, ging sie auf ihn zu und hob den Kopf und öffnete den Mund, und heraus kam der rätselhafte Satz:
    »Ich sehe dich auch.«

    Hilda und Renate brachten sie nach Hause, brachten sie »rum«, wie die beiden sagten, und Julia tat gern so, als
glaubte sie die nette Lüge, daß der eigene Nachhauseweg der beiden »praktisch« am Ladestein-Haus vorbeiführte. Hilda schob ihr Fahrrad, und die drei Frauen redeten in ihrer seligen, nuscheligen Trunkenheit möglichst leise, damit die Dorfhunde keinen Alarm schlugen. Am Gartentor verabschiedeten sie sich leicht taumelig, Hilda beschloß, ihr Fahrrad weiterhin zu schieben, und Julia kämpfte noch eine Weile mit dem Schlüssel, der merkwürdig verbogen schien, oder das Schloß paßte nicht mehr, oder... Sie lachte leise, als sie auch noch rülpsen mußte:
    »Hoppla.«
    Dann war sie im Garten. Im oberen Stock des Ladestein-Hauses brannte noch Licht. Aha, Anne Bult war also tatsächlich unbemerkt allein aufgebrochen, das sah ihr ähnlich. Julia hatte wenig Lust, ihr in diesem Zustand über den Weg zu laufen, und schlich so vorsichtig wie möglich den kleinen Weg zum Gartenhaus hinauf, als sie plötzlich stutzte: Da war eine Gestalt am Fenster. Die zog jetzt die Vorhänge beiseite und schaute hinaus. Julia sah, daß es Anne Bult war. Anne Bult - ganz nackt. Und die stellte sich nun ans Fenster und schaute hinaus, vollkommen unbeweglich. Noch in dieser Pose wirkte sie irgendwie kühl, sachlich, so wie ein Modell sich vielleicht vor einem Bildhauer in Pose stellen mag: selbstverständlich, ernst, gelassen, mit viel Zeit. Instinktiv spürte Julia, daß Anne Bult nicht zum ersten Mal nachts so da stand.
    Und sie schien nach etwas Ausschau zu halten. Unwillkürlich folgte Julia ihrem Blick, aber da war nichts. Julia spürte, wie ihre Knöchel feucht wurden vom Gras, und fröstelte. Sie kniff die Augen zusammen: Hinter den Nachbarhäusern, die sich stumm in die

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