Ostseeliebe
Süden gezogen, und die kleinen braunen Feldschwirle hatten ihre sommerlichen Abstecher auf die Insel beim ersten Abkühlen beendet. Nur die Wintergoldschnäpper mit ihren kekken, leuchtendgelben und schwarzgeränderten Abzeichen auf dem Kopf schienen noch zu überlegen, ob sie es nicht doch bis zum nächsten Frühjahr einfach hier aushalten sollten, statt die gefahrvolle Reise anzutreten. Jahr für Jahr blieben mehr Vögel auf der Insel, lernten, wenn es Not tat, zu
flüchten vor Bussarden und grimmigen Sumpfohreulen, den alteingesessenen Herrschern im Dünenheiderevier.
Der Herbst, das war die Zeit des großen Atemholens für Menschen und Tiere, alle bereiteten sich auf den Winter vor; die Arbeiter, indem sie Strände und Schuppen aufräumten, die Böschungen der Steilküste ausbesserten und das Boddenufer vom Unrat befreiten, während die Bauern schnell noch einmal tiefe Furchen in ihre Äcker zogen. Wer ein Segelboot hatte, holte es an Land, befreite es von Algen und Muschelresten, wer Strandkörbe besaß, holte sie ein. Fahrräder wurden geölt, Handkarren gewartet. Im Winter, hatte Anne berichtet, kamen andere Vögel auf die Insel, lösten die davonziehenden Schwärme ab: Das schrille Konzert der Pfeifenten gellte dann durch die Dünenheide, wo jetzt schon die Rohrweihen in ihren seltsam schaukelnden Flügen das Terrain inspizierten, Kiebitze und Säbelschnäbler wurden im Föhrenwald und dicht bei den Orten gesehen, während zufriedene Austernfischer und Strandläufer die Küste endlich wieder für sich hatten. Ja, sogar der seltene Eisvogel war hin und wieder gesehen worden, selbst Anne, die sich nichts aus Vögeln machte und sich nur für »nützliche« Tiere erwärmen konnte, schwärmte von seinem schillernden grünen Federkleid, seinem orangen Bauch. Im Winter ging diese Insel nicht wirklich schlafen, und auch ihre menschlichen Bewohner zogen sich nicht zurück. Es war die Zeit der Feste.
Noch war es nicht so weit. Noch suchten die neuankommenden Vögel Quartiere. Noch klagten nur vereinzelte Nebelkrähen über den Verlust des Sommers: »Krah-kraha!«
Ein Fahrrad klingelte, Julia schrak zusammen, so sehr hatte sie sich auf die Stimmen in der Natur konzentriert. Erika hatte ihren Laden für heute geschlossen, um den Nachmittag mit den Frauen zu verbringen.
»Das war schon früher so«, sagte sie, »das wollen wir auch weiter so halten. Frisöre und Ärzte machen schließlich auch mittwochs dicht. Und diese neuen Buchhändler in Godshorn, diese Runges, die lernen das auch am besten gleich!«
Julia erwiderte nicht, daß es auf der Insel ja gar keinen Frisör gab - nur in der Saison schlug ein ambulanter Figaro in Godshorn seine Zelte auf. Und der Arzt in Nebel hatte ohnehin nie frei; immerhin hatte er theoretisch über tausend Patienten zu betreuen, die vielen Urlauber nicht eingerechnet. Aber Julia sagte das nicht, sie freute sich, daß Erika mitkam und daß es anscheinend so etwas wie eine Gemeinschaft der Frauen auf der Insel gab. Und außerdem fand sie es nett, daß sich die Frauen um die »Zugereisten« kümmerten.
»Freut mich, daß die Buchhändlerin auch kommt!« sagte Julia zu Erika und wies sie auf die kugelig glänzenden Früchte der Krähenbeeren hin: »Sieht schon ein bißchen aus wie Mini-Weihnachtskugeln, findest du nicht?«
»Du magst wohl Pflanzen und so’n Zeug?«
Erika schien befremdet. Sie fand die Bäume und Büsche ihrer Heimat nicht besonders aufregend. Lieber redete sie über Leute, und so berichtete sie Julia, daß sie sich schon in Runges Bücherstube umgesehen und sich mit den Inhabern unterhalten hatte. Die beiden aus dem Westen waren einstweilen noch mit Renovierungsarbeiten beschäftigt, aber zur Saison wollten sie pünktlich eröffnen. Der Mann träumte sogar vom Weihnachtsgeschäft, obwohl Erika bezweifelte, daß die Leute auf der Insel besonders erpicht darauf waren, ausgerechnet Bücher zu verschenken... Immerhin: Die beiden engagierten sich, so viel war jetzt schon klar.
»Dafür können die mietfrei wohnen«, erzählte Erika. »So sehr ist der Gemeinde daran gelegen, daß die Fremden hier was zu lesen haben. Ist doch verrückt, nicht?«
Die Fremden, das waren die Touristen, das waren aber auch Leute wie Julia.
»Wenn die erst zur Saison aufmachen, nützt mir das nicht viel«, meinte Julia enttäuscht, die sich schon auf neue Lektüre gefreut hatte.
»Nein, nein, dann öffnen sie erst offiziell, so mit Ladenschluß und allem drum und dran. Wenn du aber jetzt
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