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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Schwärze der Nacht schmiegten, lag nur der Bodden, nachtdunkel und starr, und auch kein Wetterleuchten spektakelte über der See, kein Schiff kreuzte, kein verirrter Vogel drehte seine Kreise, selbst die Eulen zogen
es vor, in den hohen Bäumen am Föhrenwald noch ein bißchen zu warten, bevor sie auf Jagd gingen. Kein Geräusch, nichts. Eine abwartende Stille.
    Anne Bult stand einfach da und schaute in die Nacht - eine einsame, sehr weiße, gänzlich ungeschützte Gestalt, und trotzdem auch furchtlos. In ihrer leuchtenden Nacktheit wirkte sie, als wollte sie die stumme, schwarze Dunkelheit da draußen an etwas erinnern, an etwas Weißes, Strahlendes, Gewesenes. Julia schlich sich vorbei, und Anne Bult bemerkte sie nicht und rührte sich nicht.

6
    Ein Pferd biß ihr den Finger ab, als sie ihm einen Apfel geben wollte. Aufwachen.

    Der Bundeskanzler trug einen gelb leuchtenden Schutzanzug, als er sich an die Wahlurne begab und für’s Fernsehen lächelte. Aufwachen.

    Als ihr Vater seinen Stiefel auszog, quoll Unrat daraus, viel mehr, als je in einen Stiefel paßte. Der Unrat ertränkte schließlich das ganze Haus. Aufwachen.

    Ratlos drehte sie die Kugeln in der linken Hand. Wenn diese silbernen Dinger hier nach chinesischen Heilprinzipien ihr »Qi«, also ihre Lebensenergie steigern sollten, dann blieb ihr gesamtes Qi wohl in den Träumen stecken! Oder war in den Pfeffi gefallen, den tückischen, süßen Pfefferminzlikör? Himmel, was für ein Schädel! Er schien mindestens auf das Doppelte seines gewöhnlichen Umfangs angeschwollen. Mit einem mehligen Gefühl im Körper tappte Julia zum Kühlschrank, um sich ein Mineralwasser zu holen und sich dann noch ein wenig in den ausgeleierten Lehnsessel zu setzen, den Anne Bult ihr in das kleine Gartenhaus gestellt hatte, sobald es draußen endgültig Herbst geworden war. Herbst hieß hier: Dunkelwochen, Tage, die in Nächten verschwammen,
dauernder Regen, dazu der Geruch von Pilzen und modernden Kastanien und Nüssen.

    Wochen verstrichen. Der September war einfach verschwunden, sang- und klanglos. Viele Vögel waren fort, selbst Ilja hatte sich davongemacht, und der Gesang der wenigen Unermüdlichen, die es auf der Insel hielt, wurde vom Regen mühelos übertönt. Der rauschte jeden Morgen mit neuer Kraft, stürzte sich vom Dach in die Regenrinne und schoß daraus hervor ins Erdreich wie ein Wildbach. Julia war es bald leid, eine Regentonne darunter zu klemmen; die war allzu schnell voll, und was sollte sie mit dem Wasser auch gießen? Wasser war - weiß Gott - genug da, mehr als genug.
    Julia begann zu begreifen, welchen Respekt die Inselbewohner vor dem Wasser hatten, denn so ein Dauerregen war auch den großen Sturmfluten vorausgegangen, von denen eine vor über hundert Jahren die Insel im Süden glatt in zwei Teile getrennt, und eine andere, an die sich alle noch erinnern konnten, ein großes Stück aus der Steilküste gebrochen hatte, als wäre es nichts, als wäre es ein mürbes Kuchenstück, von dem das Meer gelangweilt abbiß, um es dann wieder auszuspucken.
    Dann gab es den nachdenklichen Nachmittagsregen, wie Julia ihn bei sich nannte; denn er begann meist kurz nach der Mittagspause, wenn Julia ergeben die steile Treppe zum Raum mit den vielen Archivalien hinaufkletterte, um weiter zu sichten, zu katalogisieren und nur ausnahmsweise auch etwas zu lesen. Der Regen setzte dann langsam, aber entschieden ein, ein steter Schnürregen, der sie mit seiner eintönigen Musik begleitete, senkrecht, lückenlos fallend, Regen, der dicht werden konnte wie ein Vorhang, sie trennte vom Inselgeschehen, sie einsilbig machte, aber auch konzentrierter arbeiten ließ. So sehr umhüllte sie dieses Nachmittagsrauschen,
daß sie beim Tee mit Anne ihre Zunge oft regelrecht blockiert fand und erst nach der zweiten Tasse wieder zu reden wußte. Für Anne war das kein Problem, sie war gleichbleibend freundlich und ruhig, so daß Julia sich zuweilen fragte, ob sie ihre Erscheinung nachts am Fenster nicht vielleicht doch nur geträumt hatte.
    Abends machte der Regen oft eine Pause, so daß man schnell noch zu Erika huschen konnte, die notwendigsten Dinge einzuholen, und mit dem Einkaufsnetz im Handkarren ging Julia dann eilig nach Hause, weil sich am Horizont schon wieder tintenschwarze Wolken ballten. Manchmal war das nur eine Drohgebärde, und der Regen ließ die aufgeweichte Inselerde für ein paar Stunden zur Ruhe kommen, manchmal aber trommelte er mit spitzen Wasserfingern auf dem

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