Ostseeliebe
zielstrebig nach vorn, genau auf den Sarg zu. Es war, als würde sie dorthin gezogen, als schöbe sie irgendeine unsichtbare Kraft sanft, aber unwiderstehlich. Sie ging mit festen Schritten, aber ein wenig zurückgeneigtem Oberkörper, wie jemand, der sich vor dem, was er gleich sehen wird, fürchtet. Und doch ging sie bis ganz nach vorn. Kurz bevor sie den Sarg erreichte, zögerte sie, schaute sich sogar einmal um, und als ich noch dachte, daß sie vielleicht eine kleine Blume ablegen wollte, da erhob sie plötzlich ihre Stimme, die in der stattlichen Kapelle dünn klang, aber bis in die letzte Reihe zu verstehen war. Marga Niemann verlangte, daß man den Sarg öffnete.«
»Was?!« rief Julia dazwischen. Anne Bult ließ sich beim Erzählen nicht stören.
»Ein Gemurmel bricht aus in der Kirche. ›Was hat sie gesagt? ‹ tuschelt es um mich herum. ›Was hat sie gesagt?‹ Der Pastor ist irritiert und versucht, so zu tun, als habe er nichts gehört, aber Marga Niemann wiederholt ihre Forderung. ›Öffnet den Sarg!‹ Das Gemurmel wird lauter. Was hat die Frau? Nun sagt Marga Niemann zum dritten Mal, daß der
Sarg geöffnet werden soll, und auf einmal schaudert es mich, weil ich an die dreimalige Verleugnung des Petrus denken muß, an all die...wie soll ich sagen... an all die täglichen Verleugnungen, und mir fallen andere heilige Geschichten ein, in denen nach dreimaliger Aufforderung Tote auferstanden, Tiere sprachen oder Bannflüche ausgesprochen wurden. Und da begegnet mir über die Stuhlreihen hinweg der Blick von Marianne Brant, deren Gesichtsausdruck etwas Triumphierendes hat, und ihr Kopf erhebt sich wie der eines großen Vogels aus einem Nest schwarzer Wolle. Der Pastor ist mittlerweile die zwei flachen Stufen vom Altar heruntergekommen und redet leise auf Marga Niemann ein. Die schüttelt aber nur den Kopf und stößt sogar den Arm weg, den er um sie legen will.
›Marga, nun mach doch nich’ so’n Aufstand!‹ ruft schließlich einer aus der zweiten Reihe. ›Nu’ laß uns doch man hier zu Potte kommen!‹<
Sofort protestieren einige: ›Nun laß man die Marga in Ruhe! Geht dich doch gar nischt an!‹
Du weißt ja, wie die Leute sind: Rede und Widerrede beginnen, die Leute drehen sich um, wenden sich einander zu, stellen Fragen. Und so bin ich auch fast die einzige, die sieht, wie sich Marga Niemanns Körper plötzlich strafft und sie einen Sprung nach vorn macht, am Pastor vorbei, zum Sarg. Sie wirft sich auf das dunkle Holz, sie macht eine Bewegung, als wolle sie den Sarg umarmen, und ruft: ›Bitte! Bitte öffnet den Sarg!‹«
Anne Bult schüttelte den Kopf, rührte in der Teetasse, in der es schon lange nichts mehr zu rühren gab. Warum wurde der Bitte einer offensichtlich Gestörten entsprochen? Anne überlegte, zuckte endlich die Achseln. »Niemand weiß es später zu erklären. Fest steht, daß sich schließlich Ole, der sich nebenberuflich als Totengräber verdingt, von seinem
Platz erhebt und mit finsterem Blick nach vorn geht, dabei zwei, drei Männer zur Seite schiebt, die sich ihm in den Weg stellen, und fest steht außerdem, daß ein paar Frauen ihm nach vorne folgen, auch sie unwiderstehlich angezogen von dem seltsamen Geschehen. Ich auch«, sagt Anne, »stell dir vor, ich auch! Ehe ich mich verseh’, schließe ich mich den anderen an. Ole schaut kurz zum Pastor hin, der nickt und sich abwendet, und Ole tut sein Werk. Er hebelt den Sargdeckel mit einer Zange auf, und dann tritt plötzlich eine große Stille ein. Du mußt dir vorstellen: Es ist plötzlich finster geworden, die Flammen der Kerzen zucken unruhig durch die Kirche, und mir ist, als würde es plötzlich kälter in der Kirche. Marianne Brant steht wie ein riesenhafter Schatten an der Seitenwand, und ich höre sie murmeln: ›…Satt an Übeln wurde meine Seele/mein Leben kam bis an den Scheol./Ich ward gezählt mit denen, die zur Grube fahren /ward wie ein Mann, der ohne Kraft;/frei ist mit den Toten /Es lastet über mir dein Grimm/mit allen deinen Wogen drückst du mich nieder./Satt an Übeln ist meine Seele/Zur Grube stürzen sie dich hinab/Daß du stirbst den Tod Erschlagener in der Meere Herzen...<
Ihr Lieblingspsalm. Ein Todespsalm. Ich habe ihn schon so oft von ihr gehört. Die anderen schweigen. Auch Ole tritt nun einen Schritt zurück und blickt Marga Niemann an. Marianne Brant verstummt, als habe ihr jemand die Hand auf den Mund gelegt. Marga Niemann berührt mit einer Hand den Sargdeckel. Dann hält sie
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