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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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inne, von hinten sehe ich deutlich, wie sich ihre Schultern heben und senken.
    Jede weitere Bewegung scheint sie plötzlich übermenschliche Anstrengung zu kosten. Sie dreht ihr Gesicht halb um zu der versammelten Gemeinde, sieht aber offenbar niemanden. Wirr hängen ihr die sonst so sorgfältig frisierten Haare ins Gesicht, das vor innerer Erregung flackert. Ihre schönen Hände schauen sehr weiß aus den Ärmeln ihres
langen Mantels hervor. Dann faßt Marga nach einer Weile, die uns allen wie eine Ewigkeit erscheint, den Sargdeckel fest mit beiden Händen und hebt ihn zur Seite. Rasch nimmt Ole ihr ihn ab, stellt ihn weg, zögert, tritt beiseite. Niemand bewegt sich. Marga Niemann blickt in den Sarg hinunter. Und dann gellt ein entsetzlicher Schrei durch die Kapelle, und Marga stürzt zu Boden.

    Sie wird schon wieder werden!« schloß Anne Bult nüchtern ihre Erzählung und goß Tee nach, rührte schon wieder in ihrer Tasse. »Sie hatte eben einen kleinen Kreislaufzusammenbruch. Ist ja auch kein Wunder, wenn man nach dreißig Jahren den Geliebten wiedersieht. Und dann so! Erstaunlich, daß sie ihn erkannt hat.«
    Als sie die Teetasse zum Mund hob, zitterte der schöne blaue Rand ein wenig vor ihren Lippen.
    Der polnische Seemann Leszek Mysliwski erhielt einen schönen Grabplatz auf dem Kirchhof in Stiftsdorf. Von diesem Tag an wurde Marga Niemann nicht mehr gesehen.

10
    November. Tage wie Teig. Und dunkel und undurchdringlich. Regenmüde Wolken legten sich auf die Dorfstraße schlafen, zwischen die Buchen. Die Hunde bellten empört, und ihre Stimmen klangen geisterhaft und einsam durch den Nebel. Im Hotel Pirat wurden die letzten Gäste unruhig, weil das Serviermädchen immer öfter sagte: »…ist aus!« Wie in alten Zeiten die Standardantwort für Besucher, denen es einfiel, Wünsche zu haben. Die Beschaffung auch ausgefallener Lebensmittel war mittlerweile zwar kein grö ßeres Problem mehr, aber Koch und Geschäftsführerin hatte die große Novemberträgheit erfaßt. In der Dünenheide faulten die Gräser. Die letzten Schlehen hatte keiner mehr gepflückt.
    Erste Winde kündigten einen stürmischen Winter an, rissen das bunte Laub von den Bäumen. In den Ställen von Gau und Wolters brüllte das Vieh: Es war noch nicht daran gewöhnt, die Tage in den Stallungen zu verbringen.
    Die letzten Rüben waren geerntet, die Kartoffelernte eingebracht. Bevor man sich besuchte, überlegte man lange; zufrieden waren die, die beieinander im Warmen saßen.
    »Bloß keene Beenarbeit!« sagten die Leute und verkrochen sich im warmen Haus.
    Runges machten ihren skandinavischen Buchpavillon wetterfest, so gut, wie es Detmolder eben verstehen, die
Stürme nur vom Hörensagen kennen und Regen als Belästigung beim Verlassen des Linienbusses. Malte begann, wieder zu trinken; sein Rücken schmerzte bei diesem Wetter. Mady wartete. Die Schafe humpelten; das feuchte Wetter machte ihnen zu schaffen. Der Schmied setzte über von der großen Insel: Immer öfter lösten sich im zähen Schlick die Eisen der Pferde.
    Für Julia war es eine gute Zeit; sie kam voran mit ihrem Dichter.
    Ist keine Zeit zu kämpfen
Im Schlehensaft wirkt Geist
Und Acker um Acker gräbt sich fremdes Leid
Furchen Novembersorgen, malt sich Bedenklichkeit
In meine Züge, in meine Züge

    Hab’ keine Ruh’ zu träumen
Nachts weht der Regenwind
Und Nebel um Nebel wölkt sich der Zweifel
Haken sich Fragen fest, schlägt mich ein Meißel
Unsicherheit, Unsicherheit

    Der November ist die Zeit zu lassen
Nicht zu sehr lieben, nicht zu sehr hassen
Der November gibt zu, gibt nach
gibt schwer wieder her
Die Goldbehelmte, die Tänzerin
sie liebt mich nicht mehr!
    Ladestein begleitete sie. Er war ebenso lebendig wie Anne, wie all die Schucks und Gaus - und fast so wie Hanno. Zuweilen vergaß sie, weshalb sie all die Briefe, Tagebücher und Gedichte des Schriftstellers lesen und katalogisieren sollte, denn diese alltäglichen Verrichtungen, wie Anne das
nannte, fielen ihr ebenso leicht und ebenso schwer wie der Rest ihres Inselalltags. Es machte keinen Unterschied mehr. Alles verschwamm und schob sich ineinander, das Einkaufen und Kochen, das Laubharken vor dem großen Eingangstor und die nach wie vor einsamen Wanderungen, die disziplinierte Lektüre der handgeschriebenen Korrespondenz und das Erstellen immer neuer Karteisysteme: »Ladestein: Freunde«, »Ladestein: Gläubiger« … Zunehmend lebte sie in dem Gefühl, daß das Wichtigste, das Bedeutsame, zwanglos

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