Ostwind (German Edition)
Staunend schaute sich Mika um. Im großen Flur standen schwere, dunkle Möbel, die Wände des Treppenhauses waren mit gerahmten Fotografien behängt. Mika sah sich alle genau an. Das letzte Bild zeigte ein Madchen, das ein Pony am Zugel hielt und Mika wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Dann fiel Mikas Blick auf eine Vitrine, die neben dem Bild stand. Ein Paar edle braune Reitstiefel standen hier neben einer Goldmedaille mit den olympischen Ringen. Ein vergilbtes Foto zeigte eine lachelnde junge Maria Kaltenbach mit der Medaille um den Hals auf der Treppe des Gutshauses.
»Das war nach ihrem Olympiasieg. Den Rekord halt sie bis heute«, erklärte Sam, der auf dem oberen Treppenabsatz auf Mika wartete.
»Meine Großmutter?«, fragte Mika ungläubig.
»Frau Kaltenbach ist …«, begann Sam. Doch dann korrigierte er sich, »… war eine der besten Springreiterinnen der Welt. Und die Stiefel da kriegt irgendwann ihre Nachfolgerin.«
»Ist ja wie bei Aschenputtel«, bemerkte Mika ironisch.
Sam wurde ungeduldig. »Jetzt komm! Frau Kaltenbach wartet nicht gern«, rief er. Mika folgte ihm zu ihrem Zimmer. Es hatte blaue Wände und war mit alten Möbeln und einem riesigen, unmodernen Bett ausgestattet.
Als sich Mika vorsichtig daraufsetzte, knarzte es vernehmlich. Sie verdrehte die Augen. »Gemutlich«, sagte sie.
Als Mika zum Essen im Erdgeschoss erschien, wartete ihre Großmutter bereits an der gedeckten Tafel. Doch als die beiden einander gegenübersaßen, wussten weder Mika noch ihre Großmutter, was sie reden sollten. Einen sehr langen Moment herrschte eine peinliche Stille, in der die Wanduhr ohrenbetäubend tickte. Maria Kaltenbach suchte krampfhaft nach einem Gesprächsthema.
»Wie war die Reise?«, fragte sie schließlich.
»Gut«, sagte Mika.
Maria Kaltenbach nickte. »Schon.«
Es war ganz offensichtlich, dass sie kein Talent fur Smalltalk hatte. Nach einer zähen Schweigesekunde fragte sie: »Musstest du oft umsteigen?«
»Einmal«, sagte Mika.
»Schön«, sagte Maria Kaltenbach erneut.
Aber auch Mika fühlte sich gehemmt. Schließlich war diese Frau für sie ein wildfremder Mensch. Worüber sollte sie mit ihr sprechen?
Endlich ging die Tur auf, und eine gemütlich wirkende Haushälterin erlöste Mika und ihre Großmutter, indem sie dampfende Teller servierte.
Maria Kallenbach nahm ihr Besteck. »Dann mal guten Appetit. Du hast sicher Hunger!«, sagte sie sichtlich erleichtert.
Auch Mika atmete auf. »Und wie!«, wollte sie gerade sagen, doch da fiel ihr Blick auf ihren Teller, in dem eine hautlose bleiche Wurstmasse in graugrunem Kohl schwamm.
Mikas Augen weiteten sich entsetzt. Wollwürste! Deftige, fleischige Hausmannskost, dabei war sie schon seit Jahren Vegetarierin. Wie sollte das bloß weitergehen?
4. Kapitel
In der Nacht wälzte sich Mika schlaflos in ihrem knarzenden Bett. Alles war still, nur ein trauriges Wiehern war aus der Ferne zu horen. Mika fühlte sich einsam. Vielleicht vermisste sie ihre Familie, auf jeden Fall aber Fanny. Ihre Großmutter erschien ihr nicht unbedingt besonders herzlich, aber sie war gewiss kein Monster. Aushalten ließ es sich mit ihr bestimmt.
Nur warum hatte ihre Mutter ihr ihre Großmutter nur so lange verschwiegen? Mika konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter sie jemals erwähnt hatte. Irgendetwas musste in der Vergangenheit zwischen den beiden gründlich schiefgelaufen sein.
Mika tastete nach ihrem Handy. Dann erhellte das fahle Licht des Displays ihr Gesicht. 02:30 Uhr. Noch immer kein Netz!
Verargert warf Mika das Handy zuruck in die Nachttischschublade und kniff die Augen zu. Jetzt wird geschlafen! Da erklang wieder dieses verzweifelte Wiehern. Und obendrein knurrte auch noch ihr Magen. Mika machte die Augen wieder auf.
Seufzend kletterte sie aus dem Bett und tappte hinunter in die Küche, wo sie sich die Taschen ihres Pyjamas voller Äpfel stopfte.
Aber gerade als sie genüsslich in einen Apfel beißen wollte, hörte sie wieder das Wiehern. Nur klang es hier unten in der Küche näher und noch verzweifelter.
Auf einmal krachten Hufe gegen Holz. Mika spähte aus dem Fenster. Draußen war es stockfinster. Für einen Moment herrschte eine gespenstische Stille, dann hörte sie erneut das Pferd. Mika konnte nicht anders. Neugierig verließ sie das Gutshaus und suchte sich den Weg hinüber zum Stall. Sie öffnete leise die Tür und schlich hinein.
Die Stallgasse war aufgeräumt und leer, alles stand akkurat an seinem Platz. Mika lugte
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