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Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Titel: Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Kreis durchlaufen zu haben, und Orlando rechnete damit, daß sie jetzt entweder den Kopf schüttelte und ging oder die Gelegenheit nutzte, um noch ein paar düstere Vorhersagen vom Stapel zu lassen. Statt dessen setzte sie sich auf die Bettkante, wobei sie darauf achtete, seine Beine oder Füße in keiner Weise zu belasten. »Orlando, hast du Angst?«
    »Meinst du im Moment? Oder überhaupt?«
    »Beides. Ich meine …« Sie wandte den Blick ab, dann gab sie sich einen Ruck und faßte ihn ins Auge. Zum erstenmal seit geraumer Zeit fiel ihm wieder auf, wie hübsch sie war. Auf der Stirn und in den Augen- und Mundwinkeln waren Fältchen, aber sie hatte immer noch ein festes Kinn und ihre sehr klaren blauen Augen. Im verdämmernden Licht des späten Nachmittags sah sie nicht anders aus als die Frau, die ihn im Arm gehalten hatte, als er noch klein genug gewesen war, sich im Arm halten zu lassen. »Ich meine … es ist nicht gerecht, Orlando. Wirklich nicht. Der schlimmste Mensch der Welt sollte deine Krankheit nicht haben. Und du bist alles andere als schlimm. Du regst mich manchmal auf, aber du bist klug und lieb und sehr tapfer. Dein Vater und ich, wir lieben dich sehr.«
    Er machte den Mund auf, aber es kam kein Ton heraus.
    »Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen als: ›Sei tapfer!‹ Ich wünschte, ich könnte an deiner Stelle tapfer sein. O Gott, das wünschte ich so sehr.« Sie zwinkerte gegen die Tränen an und hielt dann ihre Augen eine ganze Weile geschlossen. Eine Hand kam vor und legte sich leicht auf seine Brust. »Das weißt du, nicht wahr?«
    Er schluckte und nickte. Das alles war peinlich und quälend, aber irgendwie tat es auch gut. Orlando wußte nicht, was stärker war. »Ich liebe dich auch, Vivien«, sagte er schließlich. »Conrad auch.«
    Sie blickte ihn an. Ihr Lächeln war schief. »Wir wissen, daß es dir viel bedeutet, im Netz zu sein, daß du dort Freunde hast und … und …«
    »Und sowas wie ein normales Leben.«
    »Ja. Aber du fehlst uns, Schatz. Wir möchten dich so viel wie möglich sehen …«
    »Solange es mich noch gibt«, beendete er den Satz für sie.
    Sie zuckte, als ob er sie angeschrien hätte. »Das kommt noch dazu«, sagte sie schließlich.
    Auf einmal spürte Orlando sie wie schon seit längerer Zeit nicht mehr, sah den Druck, unter dem sie stand, die Ängste, die sein Zustand ihr bereitete. In gewisser Weise war es tatsächlich grausam von ihm, so viel Zeit in einer Welt zu verbringen, die ihr unsichtbar und unerreichbar war. Aber im Augenblick mußte er dort sein, mehr denn je. Er überlegte, ob er ihr von der Stadt erzählen sollte, aber wußte nicht, wie er es sagen sollte, ohne daß es sich albern anhörte, wie der unmögliche Tagtraum eines kranken Kindes – schließlich konnte er sich selbst kaum davon überzeugen, daß es etwas anderes war. Die Rolle, die im Verhältnis zwischen ihm und Vivien und Conrad das Mitleid spielte, war heikel genug, er wollte nichts tun, was es für alle noch schwerer machte.
    »Ich weiß, Vivien.«
    »Vielleicht… vielleicht könnten wir uns jeden Tag ein bißchen Zeit zum Reden nehmen. So wie wir jetzt reden.« Ihr Gesicht war so voll von schlecht verhohlener Hoffnung, daß er kaum hinschauen konnte. »Ein klein wenig Zeit. Du kannst mir vom Netz erzählen, von allen Dingen, die du gesehen hast.«
    Er seufzte, aber fast unhörbar. Er wartete immer noch darauf, daß die Wirkung des Schmerzmittels einsetzte, und fand es schwer, mit jemand anders Geduld zu haben, selbst wenn man die andere liebte.
    Liebte. Eine seltsame Vorstellung. Dabei liebte er Vivien wirklich, sogar Conrad, obwohl die Gelegenheiten, bei denen er seinen Vater zu Gesicht bekam, ihm manchmal so selten vorkamen wie Meldungen über das Auftauchen anderer sagenhafter Ungeheuer wie Nessie oder Bigfoot.
    »He, Boß«, sagte Beezle in sein Ohr. »Ich glaub, ich hab was für dich.«
    Orlando stemmte sich trotz des Pochens in seinen Gelenken ein Stückchen weiter hoch und setzte ein müdes Lächeln auf. »Okay, Vivien. Abgemacht. Aber nicht jetzt gleich, okay? Ich bin ziemlich müde.« Wenn er log, konnte er sich noch weniger leiden als sonst, aber auf eine verquere Art war es ihre eigene Schuld. Sie hatte ihn daran erinnert, wie wenig Zeit er in Wahrheit hatte.
    »Gut, Schatz. Dann leg dich einfach wieder hin. Möchtest du etwas zu trinken haben?«
    »Nein, danke.« Er rutschte wieder nach unten, schloß die Augen und wartete darauf, daß sie die Tür

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