Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
wer da auf der Minimaxbrücke auf uns wartet! Es ist das Mischmaschschwein! Aber, oh, seht nur! Das Mischmaschschwein ist riesengroß!«
Die ganze Jingle-Dschungelhorde drehte sich um, und das unsichtbare weltweite Publikum dazu. Das Mischmaschschwein war ein Freund und einstiges Haustier des Onkels, ein amorpher Klumpen aus zahlreichen schweineförmigen Beinen, Füßen, Schnauzen, Augen und rosigen Ringelschwänzchen, und es war bereits so hoch wie ein Haus und wurde mit jeder Sekunde größer. Orlando zuckte richtig zusammen, als er in der wuseligen Gestalt zum erstenmal die Wurzeln seines eigenen Beezle-Bug-Designs erkannte, doch während er das Mischmaschschwein früher irrsinnig komisch gefunden hatte, war ihm sein haltloses Dahinschlabbern jetzt eher widerlich.
»Bleibt niemals zu lange auf der Minimaxbrücke!« schärfte Onkel Jingle so ernst ein, als erklärte er den zweiten Satz der Thermodynamik. »Sonst werdet ihr entweder gaaanz groß oder gaaanz klein. Und was ist mit dem Mischmaschschwein passiert?«
»Es ist groß!« schrien die Kinder der Jingle-Dschungelhorde, scheinbar unbeeindruckt von der seeanemonenartigen Masse, die sich wie ein Berg vor ihnen auftürmte.
»Wir müssen ihm helfen, wieder klein zu werden.« Der Onkel sah sich mit forschenden Lakritzbonbonaugen um. »Wer weiß etwas, wie man ihm helfen kann?«
»Stich mit ’ner Nadel rein!«
»Hol Zoomer Zizz!«
»Sag ihm, es soll aufhören!«
»Sag ihm, es soll ans andere Ende der Brücke gehen«, schlug eines der Kinder schließlich vor, ein kleines Mädchen der Stimme nach, deren Sim ein Spielzeugpanda war.
Der Onkel nickte glücklich. »Ich glaube, das ist eine sehr gute Idee…«, der Onkel brauchte eine Zehntelsekunde, um den Namen abzurufen, »… Michiko. Kommt! Wenn wir alle gleichzeitig rufen, hört es uns vielleicht. Aber wir müssen ganz laut rufen, weil seine Ohren jetzt ganz weit oben sind!«
Alle Kinder fingen an zu schreien. Wie ein besonders grotesker Paradeballon, dem die Luft entwich, flatschte sich das Mischmaschschwein auf den Boden, um zu hören. Auf die Anweisung der Kinder hin bewegte es sich ein Stückchen weiter über die Brücke, blieb dann aber verwirrt stehen. Die Horde kreischte noch schriller; der Radau wurde unerträglich. Böse Bande hin oder her, Orlando hatte seine Grenze erreicht. Er sorgte dafür, daß seine Suchmeldung weiter auf dem Band »Neue Freunde« erschien, und beendete seinen Besuch in Onkel Jingles Dschungel.
»Orlando!« Jemand schüttelte ihn. »Orlando!«
Er schlug die Augen auf. Viviens Gesicht war ganz nahe, voller Sorge und Verärgerung, eine Mischung, die Orlando gewöhnt war. »Alles okay. Ich hab bloß eine Show geguckt.«
»Wieso kannst du mich nicht hören? Das gefällt mir gar nicht.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich hab mich bloß konzentriert, und ich hatte es ziemlich laut. Es war ein wirklich interessanter Bericht über die Bewirtschaftung der Meere.« Das müßte es tun, dachte er sich. Vivien befürwortete Bildungssendungen. Er wollte ihr nicht sagen, daß er sie tatsächlich nicht gehört hatte, daß er sie so wenig hatte hören können, wie wenn sie seinen Namen in Hawaii gerufen hätte, weil er nämlich bei der T-Buchse keine Leitung für normale Eingabe von außen – das heißt für akustische Signale, die von seinem richtigen Ohr zum Gehörnerv weitergeleitet wurden – offen gelassen hatte.
Sie blickte ihn unzufrieden an, obwohl sie sichtlich nicht wußte warum. »Wie fühlst du dich?«
»Schlecht.« Das stimmte. Seine Gelenke hatten schon vorher weh getan, und durch Viviens energisches Wecken war es nicht besser geworden. Das Schmerzmittel wirkte offenbar nicht mehr.
Vivien holte zwei Pharmapflaster aus der Schublade neben dem Bett, eines gegen die Schmerzen, das andere sein abendlicher Entzündungshemmer. Er versuchte sie aufzulegen, aber seine Finger schmerzten, und er kriegte es nicht richtig hin. Vivien nahm sie ihm stirnrunzelnd ab und plazierte sie mit geübter Geschicklichkeit auf seine knochigen Arme. »Was hast du denn getrieben, selber den Meeresboden umgepflügt? Kein Wunder, daß du Schmerzen hast, wenn du dich dermaßen in diesem dämlichen Netz abstrampelst.«
Er schüttelte den Kopf. »Du weißt, daß ich meine Muskelreaktionen abstellen kann, wenn ich online bin, Vivien. Das ist das Tolle bei den Plug-in-Interfaces.«
»Bei dem Vermögen, das sie kosten, kann man ja auch was verlangen.« Sie stockte. Ihr Gespräch schien den üblichen
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