Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Emily bebend. »Er hat mich einen hübschen kleinen Pudding genannt.«
»Ach ja?« Renie warf Azador einen angewiderten Blick zu. »Dann verrat ich dir mal was aus dem RL – manchmal sind Männer die reinsten Scheißkerle.«
Der Gegenstand dieser Bezeichnung verdrehte die Augen und verschränkte die Arme über der Brust.
Die Vogelscheuche patschte ihre wabbelnden Hände zusammen. »Ha! Natürlich! Ihr könnt ins Werk gehen. Dort gibt’s ein Gateway, dort, wo der Fluß durch die Kläranlage läuft.«
»Ins Werk?« fragte Azador. »Da ist der Blechmann doch am stärksten.«
»Schon, aber in seinem eigenen Hinterhof paßt er zur Zeit nicht auf, weil er hier aufpaßt. Wo jetzt die letzte Runde gespielt wird.« Der König von Kansas fing an, Luft zu verlieren. Seine geschwollenen Züge nahmen einen besorgten Ausdruck an. »Aber ihr dürft nicht zulassen, daß er dieses Mädchen erwischt. Wenn er die Dorothy kriegt, ist das ganze Spiel aus.«
»Das hier ist für dich ein Spiel?« Renie schüttelte erbittert den Kopf. »Dies alles, die Toten, das Leiden, soll nichts weiter sein als ein Spiel?«
Die Vogelscheuche hatte schon wieder Mühe, den Kopf oben zu halten. »Nichts weiter? Du bist wohl vollstens scänscän? Ich bin seit zwei Jahren kaum mehr aus dieser Simulation draußen gewesen – gerade lange genug, um im RL meine Flüssigkeiten und Filter zu wechseln, und das war’s auch schon. Ich bin mindestens fünfzehn Prozent meiner Knochenmasse los, heiliger Strohsack, ich hab Muskelschwund und was nicht noch alles! Ich hab alles, was ich hatte, in diese Simwelt gesteckt und sie auch dann noch verteidigt, als diese Widerlinge aus einer andern Simulation angewalzt kamen und meine Partner abservierten. Jetzt werde ich mich und dieses ganze Gebäude in die Luft jagen, damit dieser Blecharsch und sein fetter Kompagnon es nicht in die Hand bekommen – mit der Konsequenz, daß ich Wochen brauchen werde, um wieder einen Weg hinein auszutüfteln –, und da sagst du: ›nichts weiter als ein Spiel‹?« Sie rieb sich ihr schlaffes Gesicht. »Wenn hier eine von Sinnen ist, dann bist du es.«
»Bist du vor kurzem mal draußen gewesen? Offline?«
Sie beäugte Renie mißtrauisch. »In den letzten paar Tagen nicht. Aber ich nehme an, daß mir jetzt ein kleiner Urlaub blüht, ob’s mir paßt oder nicht. Warum fragst du?«
Renie zuckte mit den Achseln. »Ohne besondern Grund.« Aber sie dachte bei sich: Du wirst dein blaues Wunder erleben, Bürschchen. Dann sah sie ein, wie gemein das war. Das Leben dieser Person konnte in Gefahr sein – die Leute hatten immer noch keine Ahnung, was es mit den offenbar geänderten Regeln von Anderland auf sich hatte. »Nein, das stimmt nicht«, sagte sie. »Es gibt einen wichtigen Grund. Wir denken, daß mit dem gesamten Netzwerk etwas nicht in Ordnung ist. Einige Leute haben … haben sehr sonderbare Probleme damit. Sie können nicht offline gehen. Und es kann sein, daß … Dinge, die hier geschehen, auch offline Auswirkungen auf sie haben.« Es war unmöglich, dem Mann ihre Befürchtungen mit wenigen Worten dazulegen, aber sie mußte versuchen, ihn zu warnen. »Ich denke, wenn ich du wäre, würde ich versuchen, auf die normale Art offline zu gehen, bevor ich virtuellen Selbstmord beginge.«
Die Vogelscheuche riß mit gespieltem Erstaunen beide Augen weit auf, aber Azador hinter ihr wirkte beunruhigt. »Ooh, vielen Dank, junge Frau. Und falls ich mich zufällig mal in deine Welt verirren sollte, werde ich dir bestimmt auch einen Haufen unnötiger Ratschläge geben.« Sie wandte sich an Azador, als wäre er als einziger es wert, daß man das Wort an ihn richtete. »Über diesem Raum verläuft ein Belüftungsschacht – gleich hinter dem Gitter da. Wenn ihr ihn weiterverfolgt, kommt ihr irgendwann aufs Dach hoch, wenn ihr wollt, oder in den Keller runter, aber ihr solltet lieber nicht in einem vertikalen Schacht hockenbleiben, wenn’s sich vermeiden läßt. Kapiert?«
Azador nickte.
»Sobald ihr draußen seid, könnt ihr quer durch die Stadt zum Fluß laufen und auf dem Weg zum Werk gelangen. Oder macht, was ihr wollt, verdammt. Aber jetzt seht zu, daß ihr wegkommt, denn ich kann nicht ewig warten. Ungefähr fünfzehn Minuten, nachdem hier der letzte Hintern im Schacht verschwunden ist, wird dieser Bau explodieren wie das Feuerwerk am Tag der Vereinten Nationen. Länger kann ich nicht warten. Ich löse mich in meine Bestandteile auf.«
!Xabbu trat vor und stellte sich auf den
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