Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
völlig vergessen. Er hat ihr das gegeben, nicht wahr? Das hat sie gesagt.« Sie stand auf. »Wo hast du das her, Azador?«
Er sah keine der beiden Frauen an. »Was?«
»Dieses Juwel. Wo kommt es her?«
»Wer bist du?« fuhr er sie an, und Rauch strömte ihm aus Mund und Nase. »Wer bist du, du aufgeblasene Person? Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig! Ich gehe, wohin ich will, ich tue, was mir paßt. Ich gehöre zum Volk der Roma, und wir erzählen unsere Geschichten nicht an Gadschos weiter.«
»Roma?« Renie durchwühlte ihr Gedächtnis. »Du meinst, du bist ein Zigeuner?«
Azador schnaubte und wandte sich ab. Renie verfluchte sich für ihre Ungeduld. !Xabbu hatte recht – sie durften es nicht riskieren, ihn und sein Wissen zu verlieren. Es brannte wie Feuer, sich zu entschuldigen, aber sie wußte, daß es sein mußte. »Azador, es tut mir leid, ich stelle wirklich zu viele Fragen. Aber wir kennen uns hier nicht aus und wissen nicht, was wir tun sollen. Wir wissen die ganzen Sachen nicht, die du weißt.«
»Allerdings«, murrte er.
»Dann hilf uns! Du hast recht, du mußt uns keine Auskünfte geben, aber wir brauchen deine Hilfe. Das alles hier, dieses Otherlandnetzwerk – weißt du, was hier vor sich geht?«
Er blickte sie aus den Augenwinkeln an und tat einen langen Zug an seiner Zigarette. »Die übliche Geschichte. Reiche Deppen machen Spiele.«
»Aber das stimmt nicht mehr. Das System … verändert sich irgendwie.« Sie überlegte, wieviel sie ihm verraten konnte, ohne ihre Situation preiszugeben – sie konnten nicht davon ausgehen, daß er auf harmlose Weise in den Besitz des Juwels gelangt war. »Du hast gehört, was ich zu der Vogelscheuche gesagt habe. Das hab ich gesehen. Ich stelle dir jetzt dieselbe Frage: Hast du mal versucht, offline zu gehen?«
Er wandte sich ihr voll zu. Emily wich an die Wand des Güterwagens zurück, als könnte sie sich an etwas verbrennen, das zwischen ihnen hin- und herging. »Ich hab gehört, was du zu der Vogelscheuche gesagt hast«, erklärte er schließlich. »Ja, ich hab’s versucht.«
»Und?«
Er zuckte mit den Achseln und strich sich sein dichtes Haar aus dem Gesicht. »Und es ist, wie du sagtest. Ich konnte nicht weg. Aber mir macht das nichts aus«, fügte er geringschätzig hinzu. »Mir pressiert’s nicht.«
»Siehst du?« Sie ließ sich auf dem Fußboden nieder und kreuzte die Beine. »Wir müssen uns gegenseitig sagen, was wir wissen.«
Azador zögerte, dann ging sein Gesicht zu wie eine Tür. »Nein. Nicht so hastig. Und außerdem können wir hier nicht rumsitzen und reden. Vielleicht wenn wir an den nächsten Ort übergewechselt sind.«
Er hatte also vor, mit ihnen zu gehen. Renie war sich nicht sicher, wie sie das fand, aber vielleicht hütete Azador seine Geheimnisse genau aus diesem Grund, damit sie gar nicht erst auf den Gedanken kamen, es auf eigene Faust zu versuchen.
»Okay.« Renie erhob sich. »Also machen wir uns auf den Weg.«
Irgendwann begannen Rohre, Tanks und Stromkabel das Vorankommen zu erschweren: Das ausufernde Bahngelände ging – unmerklich zunächst – in das Werk über.
Die sich über die Gleisanlagen schlängelnden Rohre, die die Schienenfahrzeuge mit Wasser und Treibstoff versorgten und diverses flüssiges Frachtgut absaugten oder einpumpten, wurden auf Schritt und Tritt dominanter. Große Rohre wurden noch größer, und Systeme von Leitungen und Förderbändern fügten sich zu immer komplexeren Einheiten zusammen, bis statt der Loks und Güterwagen gewaltige Rohrverbände das Bild bestimmten und offenbar der Gegenstand aller Ängste und Wünsche waren.
Der düster gefleckte Himmel, der wie eine durchsackende nasse Decke über dem Güterbahnhof von Smaragd lag, wurde zuerst von hängenden Kabeln und den allgegenwärtigen Rohren in Quadranten unterteilt und dann, als diese Infrastruktur sich immer dichter und höher über ihnen erhob, ständig weiter in kleinere Abschnitte, bis er schließlich nur noch eine Ahnung unruhiger Wolkenbewegungen in den Lücken zwischen den Leitungsaggregaten war. Selbst der Boden, der auf dem Gleisgelände ausgedörrte, rissige Erde gewesen war, schien sich jetzt mit jedem Schritt, den sie machten, dem Werk mehr anzupassen und überzog sich erst mit einer Haut aus grobem Asphalt, woraufhin er Pfützen von stehendem Wasser und irisierendem Öl ausschwitzte. Daß es zwischen ihrer vorherigen und ihrer jetzigen Situation überhaupt eine Übereinstimmung gab, lag nur daran, daß
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