Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
verschlimmernde, besorgniserregende Obsession angesehen worden.
Ich fragte sie, wie sie so lange online bleiben könne, und sie gestand schüchtern, daß sie ihre gesamten Ersparnisse genommen – für ihren Sohn und ihre Schwiegertochter ein weiteres Zeichen seelischer Labilität – und sich in einem Immersionspalast, einer Art VR-Urlaubsparadies am Rande des Zentraldistrikts, für einen längeren Aufenthalt eingemietet habe. In einem Ton, der sich nach einem gequälten Lächeln anhörte, sagte sie, daß diese Extrazeit im Otherlandnetzwerk gegenwärtig den letzten Rest ihrer Rente aufbrauche.
William und Florimel hatten sich erneut gestritten, diesmal über Kunoharas Bemerkungen – William bezeichnete sie als ›Quark‹ und war der festen Überzeugung, daß Kunohara uns damit bloß verwirren oder sogar in die Irre führen wolle, daß er sich auf unsere Kosten lustig mache –, und deshalb redeten beide mit niemandem mehr. Ich versuchte mit T4b zu sprechen, von dem ich weniger weiß als von allen anderen, aber er war sehr verschlossen. Er wirkte nicht unwirsch, sondern weit weg, wie ein Soldat zwischen einem furchtbaren Gefecht und dem nächsten. Als ich ihm behutsam Fragen stellte, wiederholte er nur, was er schon vorher gesagt hatte, nämlich daß ein Freund von ihm dieselbe Sache habe wie Renies Bruder und Quan Lis Enkelin. Als ich ihn fragte, wie er überhaupt von Atascos Welt erfahren habe, äußerte er sich vage, geradezu ausweichend. Er wollte nicht einmal verraten, wo er in der wirklichen Welt wohnte, nur daß es irgendwo in den USA sei. So anstrengend es ist, sich mit ihm zu unterhalten, habe ich doch den Verdacht, daß er sich trotz seiner Unbeholfenheit mit Worten ziemlich gut im Netz zurechtzufinden vermag. Er scheint auch mehr als sonst einer von uns beeindruckt zu sein von der Gralsbruderschaft und der ›Mordsleitung‹, die sie haben müsse, um ein solches Netzwerk zu bauen, womit er vermutlich Geld und Macht meint.
Mit unseren Tierbegegnungen hatten wir den ganzen Tag über Glück. Wir trafen auf einen Ufervogel, der groß wie ein Bürohochhaus auf stelzenartigen Beinen stand, aber konnten ihm entkommen, indem wir in eine natürliche Höhle am Ufer schlüpften und warteten, bis es ihm langweilig wurde und er davonstampfte. Etwas später zwang uns ein großer Käfer, in einer Wasserrinne an den Seitenwänden hochzukraxeln wie Leute, denen auf einer schmalen Straße ein Lastwagen entgegenkommt. Der Käfer beachtete uns gar nicht, aber wir hatten so wenig Platz, daß ich mit der Hand über seinen harten, körnigen Panzer hätte streichen können und abermals über die Detailgenauigkeit dieser Welten staunen mußte.
Am späten Nachmittag begann ich eine Veränderung des Flusses zu spüren. Aus dem tosenden Informationschaos von vorher, mit Wassertönen von einer derartigen Vielfalt, daß man meinen konnte, Hunderte von modernen Improvisationskomponisten hätten zusammen daran gearbeitet, schälten sich auf einmal … Strukturen heraus. Deutlicher läßt es sich schwer erklären. Was vorher fast vollkommen zufällig gewirkt hatte, entwickelte jetzt Kongruenzen, klarer ausgeprägte Muster, die an Kristalladern in einem gewöhnlichen Feldstein erinnerten, und ich hatte die erste Ahnung einer größeren und komplexeren Ordnung irgendwo ganz in der Nähe.
Ich teilte meinen Eindruck den anderen mit, aber sie bemerkten keinen Unterschied im Fluß neben uns. Das änderte sich nach wenigen Minuten. Florimel war die erste, die etwas im Wasser funkeln sah, zunächst ganz schwach, wie die im Kielwasser eines Schiffes aufgewühlten phosphoreszierenden Algen, aber gleichmäßig über den ganzen Fluß verteilt. Bald konnten auch die anderen das Leuchten nicht mehr übersehen. Was mich betraf, so spürte ich etwas sehr Merkwürdiges, was ich nur als eine Krümmung des Raumes bezeichnen kann. Die Offenheit, die ich so lange um mich herum wahrgenommen hatte, sowohl auf dem Fluß als auch an beiden Ufern, schien aufzuhören, als ob wir eine Stelle erreicht hätten, wo die Welt vor uns in die Zweidimensionalität überging. Ich konnte noch – wie soll ich sagen? – einen metaphorischen Fluchtpunkt erkennen, einen Behelf, wie ihn vielleicht ein Künstler benutzt, um die Illusion einer zusätzlichen Dimension zu erzeugen, aber der Raum selbst schien sich nicht über diesen Punkt hinaus fortzusetzen. Die anderen berichteten mir, daß das Ufer und der Fluß in weiter Ferne erst ihren Blicken entschwänden, daß aber
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