Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Paul seine Maske ein. Er nahm sie ab, doch diese Sekunde, in der er das Handgelenk des Jungen losließ, nützte dieser aus, um abermals einen Fluchtversuch zu unternehmen. Paul ließ die Maske in den Schlamm fallen, erwischte den Jungen am Hemdzipfel und zog ihn wieder heran wie einen Fisch an der Angel. »Verdammt nochmal, bleib da! Ich bin’s – Paul! Gally, erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
Sein Gefangener starrte ihn mit wilden, entsetzten Augen an, und Paul wurde auf einmal das Herz schwer. Es war ein Irrtum. Oder schlimmer noch, genau wie bei der geflügelten Frau war es ein Phantom, das ihn nur zusätzlich verwirrte und das Rätsel noch undurchdringlicher machte. Doch dann veränderte sich etwas in der Miene des Kindes.
»Wer seid Ihr?« fragte der Junge langsam. »Kenne ich Euch?« Sein träumerischer Ton klang, als ob ein Schlafwandler von Dingen erzählte, die er allein sehen konnte.
»Paul. Ich bin Paul Jonas!« Er merkte, daß er fast schrie, und blickte sich besorgt und betreten um, doch die feuchtfröhlich umtreibende Menge schien das kleine Drama, das sich am Fuß der Strohbrücke entspann, gar nicht zu bemerken. »Ich habe dich im Achtfeldplan getroffen. Dich und die andern Austernhausjungen – erinnerst du dich nicht?«
»Ich glaube … ich hab Euch schon mal gesehen. Irgendwo.« Gally beäugte ihn kritisch. »Aber an das, was Ihr sagt, kann ich mich nicht erinnern – na ja, ein klein wenig vielleicht. Und ich heiße nicht so, wie Ihr sagt.« Er zog versuchsweise gegen Pauls Griff an, doch der hielt eisern fest. »Ich werde hier Mohrchen genannt, weil ich aus Korfu bin.« Dieser Aussage folgte eine weitere Pause. »›Austernhaus‹, habt Ihr gesagt…?«
»Ja«, bestätigte Paul, ermutigt von der betroffenen, nachdenklichen Miene des Jungen. »Du sagtest, du und die andern, ihr wärt über den Schwarzen Ozean gekommen. Und du hast in diesem Wirtshaus gearbeitet – wie hieß es noch gleich? ›Traum des roten Königs‹ oder so ähnlich.« Paul fühlte sich plötzlich unwohl – es fielen zu viele Namen, die auch jemand anderem etwas sagen konnten, mitten in einem dichten Menschengewühl. »Hör zu, bring mich dorthin, wo du mich ursprünglich hinbringen wolltest – es ist mir egal, ob es ein Bordell ist. Irgendwohin, wo wir reden können. Ich werde dir nichts tun, Gally.«
»Mohrchen heiß ich.« Aber der Junge lief nicht weg, als Paul seine Hand losließ. »Na schön, dann kommt.« Er drehte sich um, trabte von der Brücke hinunter und huschte durch das Gedränge am Dalmatinischen Ufer wie ein Kaninchen durch hohes Gras. Paul beeilte sich, ihm zu folgen.
Sie bogen von der Uferpromenade ab und folgten einige Minuten lang einem der vielen Kanäle Venedigs tiefer in den Stadtteil Castello hinein, über steinerne Brückchen und durch schmale Straßen und noch schmälere Gassen, von denen manche kaum breiter waren als Pauls Schultern. Der Lärm und die Lichter des Dalmatinischen Ufers blieben hinter ihnen zurück, und bald war der Junge kaum mehr als ein Schatten, außer wenn er den Lichtschein unter einem Fenster oder vor einer offenen Tür passierte und einen Moment lang wieder Farbe und drei Dimensionen gewann. Plötzlich endete der Weg abrupt auf einer Seite des Wassers.
»Zur Zeit ist also Karneval?« fragte Paul atemlos, als er Gally oder Mohrchen eingeholt hatte, der wartend auf dem Pfeiler einer schmucken Brücke saß; das Gesicht eines steinernen Löwen guckte zwischen seinen Beinen hervor.
»Natürlich!« Der Junge legte den Kopf schief. »Wo seid Ihr her, daß Ihr das nicht mal wißt?«
»Nicht aus der Gegend. Aber du auch nicht, wenn du dich bloß erinnern wolltest.«
Der Junge schüttelte den Kopf, aber langsam, wie von Zweifeln geplagt. Gleich darauf wurde er wieder lebendig. »Heut abend geht’s hoch her. Aber Ihr hättet mal hier sein sollen, als die Meldung über die Türken kam. Da ging’s erst richtig rund! Dagegen ist das hier gar nichts.«
»Über die Türken?« Paul war mehr daran interessiert, seine Lungen zu füllen.
»Vor einem halben Jahr. Wißt Ihr nicht mal darüber Bescheid? Es gab eine gewaltige Schlacht auf dem Meer, an einem Ort mit so einem komischen Namen – ›Lepanto‹, glaub ich. Die größte Seeschlacht aller Zeiten! Und wir haben sie gewonnen. Ich glaube, die Spanier und noch ein paar andere haben ein wenig mitgeholfen. Der Befehlshaber Venier und die übrigen haben die türkische Kriegsflotte kurz und klein gehauen. Es heißt, es
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