Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Umwege durch die reichgeschmückten Nischen und Winkel der großen Kirche. Das Kerzenlicht reichte aus, um den Mosaiken auf den Fußböden und an den Wänden einen schwachen goldenen Glanz zu verleihen, aber ansonsten hätten sie genausogut in einem Lagerhaus oder einer Flugzeughalle sein können, wo haufenweise unkenntliche, seltsam geformte Dinge gehortet wurden.
Schließlich standen sie vor einem Bogen mit einem Behang davor. Der Junge gab ihm ein Zeichen, keinen Laut von sich zu geben, und steckte dann rasch den Kopf hindurch, um die Lage zu peilen. Zufrieden signalisierte er Paul, daß es sicher sei.
Die düstere Kapelle war ziemlich groß, aber nach dem gewaltigen, hallenden Hauptschiff davor wirkte sie recht intim. Der Altar, der unter einer Monumentalfigur der Madonna stand, war fast völlig mit Blumen und Votivkerzen zugedeckt. Vor dem Altar zeichnete sich gegen den flackernden Kerzenschein das Standbild einer vermummten Gestalt ab, etwas kleiner als lebensgroß.
»Hallo, Signora«, rief der Junge leise. Die kleinere Statue schaute sich nach ihnen um; Paul fuhr zusammen.
»Mohrchen!« Die Gestalt kam die Altarstufen herunter auf sie zu. Als sie vor ihnen stand und die Kapuze zurückwarf, reichte der Scheitel ihres Kopfes gerade an Pauls Brustbein. Sie trug ihre weißen Haare in einem festen Knoten am Hinterkopf, und ihre Nase war so krumm und vorstehend wie ein Vogelschnabel; nach dem, was Paul erkennen konnte, mochte sie ebensogut sechzig wie neunzig Jahre alt sein. »Welch glücklicher Wind?« fragte sie, was ein venezianischer Gruß zu sein schien, der keiner Antwort bedurfte, denn sie fügte sofort hinzu: »Wer ist dein Freund, Mohrchen?«
Paul nannte ihr seinen Namen, allerdings nur den Vornamen. Die Frau stellte sich ihrerseits nicht vor, aber lächelte und sagte: »Ich habe für heute meine Pflicht gegenüber dem Kardinal erfüllt. Laßt uns einen Wein trinken gehen – mit viel Wasser in deinem, Junge – und reden.«
Paul fiel ein, daß der Junge vorher etwas von einem Kardinal erwähnt hatte, und er fragte sich, für welche Pflichten dieser ihrer wohl bedürfe. Es war, als spürte sie seine Ratlosigkeit, denn als sie durch einen Seiteneingang der Kapelle in einen schmalen Gang hinaustraten, erklärte sie es ihm.
»Ich betreue die Kapelle des Kardinals Zen, müßt Ihr wissen, seine Gedenkkapelle. Normalerweise würde man das einer Frau nicht gestatten, doch ich habe … nun ja, ich habe Freunde, wichtige Freunde. Aber Mohrchen und seine Kumpane machen sich einen Witz daraus, mich Kardinal Zens Angebetete zu nennen.«
»Das ist kein Witz, Signora«, sagte der Junge verwirrt. »Alle nennen Euch so.«
Sie lächelte. Eine Weile und mehrere Ecken später öffnete sie eine von dem Gang abgehende Tür und ließ sie in eine Privatwohnung ein. Der Raum war überraschend groß und gemütlich. An den Wänden hingen Teppiche, die hohe Decke war kunstvoll mit religiösen Darstellungen bemalt, fein bestickte Kissen verbargen die niedrigen Liegen fast völlig, und in allen Vasen standen verblühende Rosen, deren abfallende Blütenblätter eben anfingen, sich auf den Tischen zu sammeln. Öllampen tauchten den Raum in ein weiches gelbes Licht. Auf Paul machte er den Eindruck eines erstaunlich üppigen, sehr weiblichen Refugiums.
Seine Reaktion mußte ihm anzusehen sein. Kardinal Zens Angebetete blickte ihn wissend an, dann verzog sie sich in ein Nebenzimmer und erschien gleich darauf wieder mit Wein, einem Krug Wasser und drei Pokalen. Sie hatte ihren Kapuzenumhang abgelegt und trug jetzt ein schlichtes, bodenlanges Kleid aus dunkelgrünem Samt.
»Habt Ihr einen Namen, mit dem ich Euch anreden kann, Signora?« fragte Paul.
»Ja, ich nehme an, die ständige Erwähnung des verstorbenen Kardinals wird langsam ein wenig lästig, nicht wahr? Nennt mich einfach Eleanora.« Sie schenkte allen Wein ein, den des Jungen reichlich mit Wasser verdünnt, wie sie angekündigt hatte. »Erzähl mir, was es Neues gibt, Mohrchen«, sagte sie, als das getan war. »Von allen meinen jungen Freunden«, erklärte sie Paul, »ist er der aufmerksamste Beobachter. Ich kenne ihn noch gar nicht lange, aber schon jetzt ist er es, der mich mit den besten Klatschgeschichten versorgt.«
Obwohl der Junge sich alle Mühe gab, ihrem Wunsch nachzukommen, und stockend ein paar Geschichten von Duellen und überraschenden Verlobungen und Gerüchten über das Treiben des einen oder anderen Senators zum Besten gab, gebot ihm Eleanora bald mit
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