Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
fallenlassen.«
»Idiot«, versetzte der zweite. »Heda! Seid ein guter Türke, und werft sie uns bitte schön wieder hoch.«
»Ist er wirklich ein Türke?« fragte die dritte Maske plötzlich. Der Mann klang noch betrunkener als die anderen beiden.
»Nein«, sagte Paul mit Nachdruck, denn sie schienen auf Türken nicht besonders gut zu sprechen zu sein. Er beschloß, ein Risiko einzugehen. »Ich bin Engländer.«
»Ein Engländer!« Der erste lachte. »Aber Ihr sprecht wie ein echter Venezianer. Ich dachte, die Engländer könnten nichts anderes sprechen als ihr Gesäge und Geknarre.«
»Die Promenade ist gleich da vorn, sagt Ihr?« rief Paul und stieß sich von dem Schiffsrumpf ab. Seine Gedanken sprudelten. »Vielen Dank für die freundliche Auskunft.«
»He, Engländer!« schrie einer von ihnen, als er davonpaddelte. »Was ist mit unserer Flasche?«
Das Dalmatinische Ufer war ein langer Kai, an dem Hunderte von Booten in allen Größen dermaßen dicht an dicht lagen, daß sie mit den Seiten aneinanderscheuerten. In dieser Nacht wenigstens erstrahlte das ganze Ufer im Glanz von Fackeln und Laternen; die hohen, bogenreichen Fassaden der Häuser waren wie für eine extravagante Filmpremiere beleuchtet. Paul machte sein kleines Boot am dunklen Ende eines der Piere an einem Poller fest. Im Vergleich zu den Booten, die um ihn her gegen die Hafenmauer stießen, war seines ein armseliger Nachen. Er bezweifelte, daß jemand es stehlen würde.
Also Venedig, dachte er, während er sich einen Weg durch die ausgelassen feiernde Menge bahnte, einen farbenprächtigen Rausch von Masken und fliegenden Gewändern. Er freute sich. Hier konnte ihm seine kunsthistorische Bildung tatsächlich einmal von Nutzen sein. Genau datieren kann ich es nicht, zumal alle kostümiert sind, aber es sieht nach Renaissance aus, entschied er. Wurde Venedig nicht la Serenissima genannt, die durchlauchtigste Republik?
Er selbst war mit einer dunklen Hose und einem Oberteil bekleidet, Wams genannt, wie er sich düster zu erinnern meinte – nicht von bester Qualität, aber auch nicht so abgetragen, daß er sich schämen mußte. Um die Schultern hatte er ein schweres Cape, dessen Saum dicht über den schlammigen Boden strich. Ein schlankes, in einer Scheide steckendes Schwert mit einem schlichten Korbgriff klapperte an seiner Seite, und damit wäre er eigentlich hinreichend ausgestattet gewesen, aber irgend etwas stupste ihn ab und zu im Genick. Als er das Ding herumzog, um zu sehen, was es war, stellte es sich als eine Maske heraus, ein ausdrucksloses Gesicht mit einer kühlen Oberfläche wie Porzellan, dessen hervorstechendes Merkmal ein großer Schnabel anstelle der Nase war. Er starrte sie einen Moment lang an und überlegte, ob er die dargestellte Figur erkennen sollte. Schließlich besann er sich darauf, daß er in diesem nach wie vor rätselhaften virtuellen Dasein, das er führte, offenbar nicht wenige Feinde hatte, und so zog er sich die Maske über und band sie hinter dem Kopf richtig fest. Sogleich fühlte er sich viel weniger auffällig und ging weiter, ohne fürs erste einen anderen Plan zu haben, als wenigstens eine Zeitlang Teil der Menge zu sein.
Eine Frau in einem Kleid, dessen Oberteil ihre Brüste weitgehend freiließ, stolperte und langte Halt suchend nach seinem Arm; er hielt sie fest, bis sie wieder sicher stand. Auch sie trug eine Maske, ein übertriebenes Mädchengesicht mit rosigen Wangen und roten, vollen Lippen. Ihr männlicher Begleiter riß sie roh von ihm weg, aber im Umdrehen streifte sie mit der Vorderseite gegen Paul und zwinkerte ihm durch den Augenschlitz ihrer Maske zu, ein langsames, betontes Wimpernklimpern, subtil wie ein fallendes Klavier. Trotz des leicht säuerlichen Weingeruchs, der ihr nachhing, war er plötzlich erregt, ein Gefühl, das Angst und Verwirrung lange Zeit fast völlig erstickt hatten.
Aber was ist sie? ging es ihm durch den Kopf. Mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Replikant. Wie das wohl wäre?
Er hatte einmal in einer Ausstellung über die Alltagskultur des zwanzigsten Jahrhunderts im Victoria and Albert Museum eine aufblasbare Sexpuppe gesehen. Er und Niles und die anderen hatten über die Primitivität des Dings gelacht, über die traurige Öde, die es gehabt haben mußte, das Ding wie vorgesehen in Gebrauch zu nehmen, sich diesem verwunderten Glotzen und diesem unmenschlichen Rundmaul von Angesicht zu Angesicht gegenüberzusehen. Aber wäre es wirklich etwas anderes, sich mit
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