Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Dinge.«
»Welche Frau?« Paul fragte sich, ob der Junge mit ihm zur Madonna beten wollte. Für das Venedig des fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhunderts wäre das eine ziemlich logische Art, das Problem anzugehen.
»Die Angebetete«, sagte Gally/Mohrchen, dann drehte er sich um und schlug wieder die Richtung ein, aus der sie gekommen waren.
»Wer?«
Der Junge schaute sich um. »Die Angebetete des Kardinals Zen. Kommt jetzt.«
Zu Pauls Überraschung führte der Junge ihn den ganzen Weg zurück bis zur Ponte della Paglia und dann über diese hinweg zu den berühmten Arkadengalerien des Dogenpalastes und des Markusplatzes. Die Karnevalsscharen drängten sich immer noch dicht am Kai und noch dichter auf dem Platz selbst.
Paul war überrascht, wie sehr ihn alles berührte: Die Piazza San Marco war ihm dermaßen vertraut von Urlaubsreisen, darunter eine Woche auf der Biennale mit einer Freundin gleich nach dem Studium (als er zum erstenmal im Leben gemeint hatte, auch er könne einmal ein romantisches Abenteuer von der Art haben, wie alle anderen sie offenbar ständig erlebten), daß die Illusion des Venedig von einst auf einmal nicht mehr wirkte. Es war fast unmöglich, den Palast, den Campanile und die Zwiebelkuppeln von San Marco anzuschauen – alle Gegenstand von tausend Kalendern und Postkarten und von ihm selbst bei seinem ersten Besuch ausgiebig fotografiert – und sich nicht in sein eigenes Jahrhundert versetzt zu fühlen, in dem Venedig ein beliebtes, aber belangloses Touristenmekka war, eher eine Art Vergnügungspark als eine einstige Reichshauptstadt.
Der Junge hatte offensichtlich nicht mit solchen Konflikten zu kämpfen. Leichtfüßig schlüpfte er zwischen den Feiernden hindurch, so daß Paul kaum hinterherkam und ihn einmal beinahe verloren hätte, als er einen scharfen Haken schlug, um nicht zwischen den beiden am Eingang zum Platz stehenden großen Säulen hindurchzumüssen.
Die Leiche eines Gehenkten, die zwischen den Säulen an einem Galgen baumelte – das Opfer einer öffentlichen Hinrichtung, die immer noch ein erbauliches Schauspiel für die Massen war –, holte Paul schlagartig wieder in diese Epoche der Repubblica Serenissima zurück. Selbst der Lichterglanz am Kai konnte das Gesicht des Mannes nicht erhellen, das ganz schwarz angeschwollen war. Paul erinnerte sich daran, wie kurios ihm auf seinem Stadtrundgang Dinge wie die Seufzerbrücke erschienen waren, eine geschlossene Brücke hoch über einem Kanal, über die einst Verbrecher aus den Zellen in die Gerichtssäle und wieder zurück geführt worden waren. Dieses Venedig hier war nicht kurios; es war real und rauh. Er nahm sich vor, das nicht zu vergessen.
»Wohin gehen wir, Gally?« fragte er, als er seinen Führer eingeholt hatte.
»Nennt mich nicht so – ich mag es nicht. Mein Name ist Mohrchen.« Der Junge verzog nachdenklich das Gesicht. »Zu dieser Nachtstunde dürfte es nicht allzu schwer sein reinzukommen.« Er trabte weiter, so daß Paul sein flatterndes Cape zusammenraffen und hinter ihm hereilen mußte.
Bewaffnete Wächter mit Piken und scharfgratigen Helmen standen vor dem Haupteingang zum Dogenpalast. Trotz des tollen Trubels ringsumher fand Paul, daß sie sehr wachsam aussahen, nicht im geringsten von ihren Pflichten abgelenkt. Der Junge lief an ihnen vorbei in den Schatten der Basilika und verschwand plötzlich hinter einer Säule. Als Paul vorbeikam, packte ihn eine kleine Hand und zerrte ihn in die Dunkelheit.
»Jetzt kommt der brenzlige Teil«, flüsterte der Junge. »Bleibt dicht bei mir, und macht keinen Lärm.«
Erst als sein kleiner Führer sich zwischen den Säulen davonstahl, begriff Paul, daß er vorhatte, in die Markusbasilika einzubrechen, das bedeutendste religiöse Bauwerk Venedigs.
»Lieber Gott«, murmelte er leise vor sich hin, eine hilflose Blasphemie.
Am Ende war es nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Der Junge führte ihn zu einer Treppe an einer Ecke der Kirche abseits der Piazza und der Menge. Mit Hilfe des von unten schiebenden Paul kletterte Gally an der Mauer neben der Treppe zu einem Fenster empor, das er aufstemmte; wenige Minuten später machte er wie ein Zauberlehrling unter der Treppe eine Tür auf, die Paul gar nicht bemerkt hatte.
Obwohl er sich der Gefahr, in der sie schwebten, deutlich bewußt war, hatte Paul sich noch genug Touristenerwartung bewahrt, um von dem dunklen Innern der Basilika enttäuscht zu sein. Gally führte ihn hastigen Schritts über lange
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