Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
menschenfernen Nirgendwo… Doch selbst wenn er in die lebendigste und quirligste virtuelle Stadt kam, die man sich vorstellen konnte, so beschrieb »nirgendwo« trotzdem ziemlich genau, wo er sich befand. In einer elektronischen Illusion. Bis über beide Augen in Code. Dennoch hatte der Gedanke, einmal die zivilisiertere Seite der Virtualität zu kosten, seinen Reiz. Nach der Eiszeit und der Invasion vom Mars war er es leid, unbequem im Freien zu schlafen.
Die Lichter schienen sich zu entfernen; Paul erkannte, daß er abtrieb. Als er gerade nach dem Paddel tastete, schwamm sein Boot aus der Nebelbank heraus, deren Existenz er gar nicht bemerkt hatte, und die Lichter der Stadt flammten jählings vor ihm auf wie der Kronleuchter Gottes.
Es war eine der schönsten Szenen, die er je gesehen hatte.
Während er in den Anblick versunken vor sich hin staunte, das Paddel nutzlos über dem Wasser schleifend, zogen auf einmal dunkle Formen durch den lichter werdenden Nebel an ihm vorbei, Schatten, die über die Stadtbeleuchtung streiften wie die Spur eines in Tusche getunkten Pinsels. Als das erste Boot vorbeiglitt, zu weit weg für ihn, um Details zu erkennen, bevor es verschwand, meinte er, munteres Lachen über das Wasser murmeln zu hören. Sekunden später waren fünf, sechs weitere erschienen, wie direkt aus dem Dunst gebildet. Laternen schaukelten an ihren geschwungenen Bügen, und noch nachdem ihre schattenhaften Gestalten an ihm vorbeigestrichen und wieder in den Nebel eingetaucht waren, konnte er ihre schwankenden Lampen wie Glühwürmchen tanzen sehen.
Ein kleineres, unbeleuchtetes Boot schnitt plötzlich so dicht an seinem Bug vorbei, daß Paul mit ausgestrecktem Paddel beinahe den glänzenden schwarzen Rumpf hätte anstoßen können. Er erhaschte einen kurzen Blick auf monströse und verzerrte Gesichter am Rand, und einen Moment lang stockte ihm das Herz: Es sah so aus, als wäre er auf den Wasserstraßen des nächsten fremden Planeten gelandet, wieder auf dem Mars oder noch schlimmer. Ein Ruf scholl zu ihm hinüber, der nach betrunkener Überraschung klang, dann wurde das auf die Stadtlichter zusausende schwarze Boot vom Nebel verschluckt. Erst als es ganz verschwunden war und er in seinem sanft schaukelnden Boot wieder allein war, ging ihm auf, daß alle Insassen Masken getragen hatten.
Die inzwischen näher gekommenen Lichter erstreckten sich vor ihm wie eine ganz aus Edelsteinen bestehende Gebirgskette, aber diese Juwelen verwandelten sich nach und nach in prosaischere, doch nicht minder erfreuliche Dinge – Fackeln, Straßenlaternen, erleuchtete Fenster –, und alle lächelten sie ihn durch die Dunkelheit an. Auch auf der anderen Seite des Wassers brannten Lichter, trotz der Entfernung genauso hell und genauso fröhlich. Die Vergnügungsboote voll maskierter Feiernder, die mit erhobenen Stimmen lachten oder nahen Booten etwas zuriefen, umschwärmten ihn jetzt an allen Seiten. Musikalische Klänge schwebten auf der Nachtluft, gezupfte Saiten, singende Stimmen und schrille Flöten, nicht immer in Harmonie miteinander. Er hatte den Eindruck, in den Fetzen, die er aufschnappte, etwas deutlich Altmodisches zu hören, aber es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn man durch einen Traum glitt.
Ein viel größeres Fahrzeug, das an einem Pier am Ufer lag, tauchte jetzt vor ihm auf, ein Galaboot, überdacht mit Baldachinen und erleuchtet von zahlreichen Ampeln. Er hörte heiseres Singen und paddelte nahe genug heran, um drei Gestalten mit weißen Masken an der Reling stehen zu sehen.
»Ich habe mich verirrt«, rief er zu ihnen hoch. »Wo bin ich?«
Die Zecher brauchten ein Weilchen, um die Herkunft der Stimme aus dem Dunkeln unter ihnen ausfindig zu machen. »Nicht weit vom Arsenal«, rief einer von ihnen schließlich zurück.
»Arsenal?« Einen Augenblick lang dachte Paul, er wäre in die nächste entstellte Version von London versetzt worden.
»Ja doch, das Arsenal. Seid Ihr ein Türke?« fragte ein anderer. »Ein Spion?« Er drehte sich um und sagte zu der dritten schweigsamen Maske: »Er ist ein Türke.«
Paul dachte, der Mann scherze, aber er war sich nicht sicher. »Ich bin kein Türke. Nicht weit von welchem Arsenal? Wie gesagt, ich weiß nicht, wo ich bin.«
»Falls Ihr das Dalmatinische Ufer sucht, seid Ihr so gut wie da.« Während der erste Mann das sagte, fiel ihm etwas aus der Hand und klatschte in der Nähe von Pauls Boot ins Wasser. »Hoppla«, sagte er. »Jetzt hab ich die Flasche
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