Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
einer imaginären venezianischen Karnevalsschönen zu verlustieren?
»Hallo, Signore, he, hallo.« Er blickte nach unten und sah einen kleinen, unmaskierten Jungen, der ihn am Umhang zupfte. »Schöne Frauen gefällig? Ich kann Euch zu einem guten Haus führen, einem erstklassigen Haus, nur das beste Fleisch. Zypriotinnen? Oder vielleicht mögt Ihr Blonde von der Donau, hä?« Obwohl der Junge nicht älter war als sieben oder acht und sehr schmutzig wirkte, hatte er das harte professionelle Lächeln eines Immobilienmaklers. »Schwarze Mädchen? Araberjungen?«
»Nein.« Paul war schon im Begriff, den Bengel nach einem Lokal zu fragen, wo er sich hinsetzen und etwas trinken konnte, aber er sah ein, daß er sich damit einen Führer für den Rest des Abends einhandeln würde, ob er wollte oder nicht, und er wußte noch nicht einmal, ob er überhaupt Geld in den Taschen hatte. »Nein«, wiederholte er, ein bißchen lauter diesmal, und machte die Hand des Jungen von seinem Umhang los. »Kein Bedarf. Sei brav und troll dich.«
Der Junge musterte ihn einen Moment lang abschätzend, dann trat er ihm vors Schienbein und entschlüpfte in die Menge. Kurz darauf hörte Paul, wie er sich mit seiner piepsenden Stimme an den nächsten potentiellen Kunden heranmachte.
Paul wurde noch von mehreren anderen kleinen Jungen von unterschiedlicher Schmuddeligkeit und Hartnäckigkeit, von ein paar Männern und von einem guten Dutzend Frauen angegangen, von denen ihn die älteste trotz ihrer nackten Schultern und ihres rosa gepuderten Dekolletes unangenehm an seine eigene Oma Jonas erinnerte. Trotzdem deprimierte ihn die Parade der vielen Schnorrer nicht, die ihn um seine Dukaten erleichtern wollten (er entdeckte, daß er tatsächlich ein paar in einer Börse am Gürtel hatte), sie bereicherten lediglich das bunte Spektakel, gehörten mit hinein in das Schauspiel der Jongleure, Feuerschlucker und Akrobaten, der Quacksalber mit ihren Wundermitteln, der grauenhaft bis göttlich spielenden Musikanten (deren Einzelleistungen aber unabhängig von ihren Fähigkeiten im allgemeinen Gelärme untergingen), der Fahnen, der flackernden Lichter und der ihr Vergnügen suchenden venezianischen Bürger, einen nicht abreißenden Zug maskierter Gestalten in Gewändern aus glitzernden, edelsteinbesetzten Brokat- oder farbenprächtigen Samtstoffen.
Er ging weiter das ganze Dalmatinische Ufer hinunter – benannt nach den dort anlegenden Schiffen von der anderen Adriaseite, wie er sich dunkel erinnerte – und wollte gerade die berühmte Ponte della Paglia überqueren, die Strohbrücke, als er abermals jemanden an seinem Ärmel zupfen fühlte.
»Nettes Amüsement gefällig, Signore?« fragte eine kleine dunkle Figur, die unversehens an Pauls Seite aufgetaucht war. »Frauen?«
Paul blickte ihn kaum an – er hatte gelernt, daß es Zeitverschwendung war, auch nur zu antworten –, aber als ein Quartett weinseliger Soldaten über die Brücke getorkelt kam und Paul auf die Seite gedrängt wurde, spürte er ein Ziehen an seiner Börse. Er fuhr herum, stieß mit der Hand nach unten und klemmte das Handgelenk des Jungen mit seinem Arm ein. Der verhinderte Taschendieb wollte sich losreißen, aber Paul bekam auch seinen anderen Arm zu fassen, und eingedenk der Lektion von vorher hielt er den zappelnden und strampelnden Jungen außer Trittweite von seinen Schienbeinen weg.
»Laßt mich los!« Sein Gefangener verdrehte sich und versuchte, ihn ins Handgelenk zu beißen. »Ich hab doch gar nichts gemacht!«
Er riß den Jungen zurück und schüttelte ihn gründlich durch; als er aufhörte, hing der kleine Ganove schlaff in seinem Griff, mit finsterem Blick, aber leise schniefend.
Paul wollte ihn schon laufen lassen – und ihm vielleicht zu Erziehungszwecken noch einen Tritt in den Arsch geben –, als etwas in dem Gesicht ihn stutzen ließ. Ein Moment verging. Mehr Volk drängte vorbei, schob sich die Stufen der Brücke empor.
»Gally …?« Paul zerrte den widerstrebenden Jungen in den Lichtkreis einer Straßenlaterne. Die Kleidung war anders, aber das Gesicht war genau das gleiche. »Gally, bist du das?«
In dem Blick, den der Junge ihm zuwarf, verbanden sich Furcht und wieselflinke Berechnung: Seine Augen schossen hin und her, während er nach einer Ablenkung suchte, die ihm vielleicht zur Flucht verhelfen konnte. »Keine Ahnung, wen Ihr meint. Laßt mich laufen, Signore – bitte! Meine Mutter ist krank.«
»Gally, erkennst du mich denn nicht?« Da fiel
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