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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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schwammen so viele Leichen im Wasser, daß man von Schiff zu Schiff hätte gehen können, ohne sich die Füße naß zu machen.« Er bekam vor ehrfürchtigem Staunen ganz runde Augen. »Sie schlugen dem türkischen Pascha den Kopf ab und steckten ihn auf einen Spieß, und als dann die ganze Flotte in die Lagune gesegelt kam, zogen sie die Flagge der Muselmanen und alle ihre Turbane im Wasser hinter sich her, und sie feuerten ihre Kanonen ab, bis alle dachten, die ganze Stadt würde im Meer versinken!« Der Bengel stieß mit den Fersen gegen die steinerne Brust des Löwen und gluckste vor Vergnügen. »Und da gab es das tollste Fest, das Ihr Euch vorstellen könnt, die ganze Stadt sang und tanzte. Sogar die Taschendiebe machten die Nacht blau – aber nur diese eine Nacht. Das Feiern ging viele Wochen lang!«
    Pauls Belustigung über die blutdürstige Schilderung des Jungen verging plötzlich. »Vor einem halben Jahr? Aber du kannst noch nicht viel länger als ein paar Tage hier sein, Gally. Selbst wenn ich nicht richtig mitgekriegt hätte, wie die Zeit verging, könnten es höchstens zwei, drei Wochen sein. Ich war mit dir in dem Land hinter den Spiegeln – mit den Rittern und den Königinnen und dem Bischof Humphrey, weißt du noch? Und dann auf dem Mars, wo Brummond und die andern waren. Das ist noch gar nicht so lange her.«
    Sein Führer sprang von dem Steinlöwen hinunter. »Ich weiß nicht, wovon Ihr redet, Signore. Die Namen, die Ihr sagt, die kenn ich alle nicht … glaub ich.« Er setzte sich wieder in Bewegung, aber diesmal langsamer. Paul folgte ihm.
    »Aber wir waren Freunde, Junge. Weißt du das auch nicht mehr?«
    Die kleine, schattenhafte Gestalt verfiel in Trab, als ob Pauls Worte wie ein Peitschenschlag gewirkt hätten. Dann wurde der Junge wieder langsamer und blieb stehen.
    »Ihr macht Euch lieber davon, Signore«, sagte er, als Paul ihn einholte. »Geht wieder zurück.«
    »Was soll das heißen? Warum?«
    »Weil es dort gar keine Frauen gibt.« Er sah Paul nicht in die Augen. »Ich wollte Euch zu so Männern bringen, die ich kenne, nicht weit von der Rialtobrücke. Schlechte Männer. Aber jetzt will ich das nicht mehr. Ihr solltet also zurückgehen.«
    Paul schüttelte überrascht den Kopf. »Aber dir war doch so, als könntest du dich erinnern. An die Zeit vorher, als wir zusammen waren.«
    »Ich will nichts davon wissen! Geht einfach fort.«
    Paul ging in die Hocke und faßte wieder das Handgelenk des Kindes, aber diesmal sanft. »Ich bilde mir das nicht ein. Wir waren Freunde – sind immer noch Freunde, hoffe ich. Ich schere mich nicht um irgendwelche Räuber.«
    Der Junge sah schließlich auf. »Mir gefallen die Sachen nicht, die Ihr sagt. Sie … es ist wie ein Traum. Macht mir Angst.« Dies letzte murmelte er: »Wie könnt Ihr mein Freund sein, wenn ich Euch gar nicht kenne?«
    Paul erhob sich, ohne das Handgelenk des Jungen loszulassen. »Ich verstehe es selber nicht. Aber es stimmt, und als ich dich voriges Mal verlor, hab ich mir schreckliche Vorwürfe gemacht. Als … als hätte ich besser auf dich aufpassen sollen. Das soll mir nicht nochmal passieren.« Er gab den Arm des Jungen frei. Es stimmte – vieles verstand er selber nicht. Wenn der Junge ein Replikant war, hätte er unmöglich seine ursprüngliche Simulation verlassen können, doch er war mit Paul aus der Welt hinter den Spiegeln zum Mars gekommen – und jetzt war er hier in Venedig. Aber wenn er ein richtiger Mensch war wie Paul, ein … wie war der Ausdruck nochmal? Wenn er ein Bürger war, dann hätte er eigentlich wissen müssen, wer er war. Er hatte seinerzeit beim Übergang zum Mars nicht alles vergessen, warum also jetzt? Wie Paul schien der Junge ein ganzes Stück seiner Vergangenheit verloren zu haben.
    Noch eine verlorene Seele, dachte er. Noch ein Gespenst in der Maschine. Das Bild jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
    Er überlegte, ob er dem Jungen alles erklären sollte, was er wußte, aber ein Blick auf dessen erschrockenes Gesicht brachte ihn von der Idee ab. Es wäre zuviel und viel zu plötzlich. »Ich kenne die Antworten nicht«, sagte er laut. »Aber ich werde sie herausfinden.«
    Zum erstenmal seit ihrem Zusammentreffen an der Brücke gewann Gally seinen frechen Gassenton zurück. »Ihr? Wie wollt Ihr hier irgendwas rausfinden? Ihr wußtet ja nicht mal, daß Karneval ist.« Er zog die Stirn kraus und lutschte an seiner Lippe. »Wir könnten die gute Frau in der Kirche fragen. Sie weiß viele

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