Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Geschichte aus war. In seiner Torheit hatte der Buschmanngott das äußerste Grauen heraufbeschworen – und sie, unterschied sie sich irgendwie von ihm?
»Ich … ich weiß nicht recht, ob ich die Geschichte verstehe«, sagte sie schließlich. Die Geschichte war nicht so traurig gewesen, wie sie befürchtet hatte, aber das Ende schien in keinem Verhältnis zu dem Schrecklichen zu stehen, das den Figuren widerfahren war. »Was sollte sie bedeuten? Tut mir leid, !Xabbu , ich stelle mich nicht absichtlich dumm. Es ist eine sehr eindrucksvolle Geschichte.«
Der Paviansim blickte müde und niedergeschlagen drein. »Erkennst du dich darin nicht wieder, Renie? Siehst du nicht, daß du wie die Stachelschweinfrau diejenige bist, auf die wir uns verlassen? Daß du wie die geliebte Schwiegertochter des Mantis diejenige bist, die mutig zur Tat schritt, als alles aussichtslos zu sein schien? Du bist es, von der wir uns erhoffen, daß sie uns hier wieder hinausführt.«
»Nein!« Sie ließ ihrem Unmut freien Lauf. »Das ist unfair – ich will nicht, daß irgendwer sich was von mir erhofft! Mein ganzes Leben lang hab ich andere auf den Arm genommen und herumgetragen. Was ist, wenn ich mich irre? Wenn ich zu schwach bin?«
!Xabbu schüttelte den Kopf. »Wir brauchen dich nicht dazu, daß du uns herumträgst, Renie. Wir brauchen dich, daß du uns führst. Wir brauchen dich, daß du mit den Augen deines Herzens schaust und uns dort hinbringst, wohin sie dich leiten.«
»Ich kann das nicht, !Xabbu ! Ich hab keine Kraft mehr. Ich kann keine Ungeheuer mehr bekämpfen.« Die Geschichte vom Allverschlinger vermischte sich in ihrem Kopf mit ihren eigenen Träumen und den Schattenwesen dieser unwirklichen Welten. »Ich bin nicht die Stachelschweinfrau. Ich bin nicht lieb und einsichtig. Mein Herz hat keine Augen, verdammt nochmal.«
»Aber spitze Stacheln hast du, genau wie sie.« Um den Mund des Pavians zuckte ein leicht schmerzliches Lächeln. »Ich glaube, du siehst mehr, als du weißt, Renie Sulaweyo.«
Emily war aufgewacht und beobachtete sie, still am Boden liegend, mit Augen, von denen man im ersten Morgengrauen nur das Weiße schimmern sah. Renie machte sich Vorwürfe, daß sie sie geweckt hatte – sie waren alle müde und hatten weiß Gott Ruhe nötig –, aber selbst diese kurze Zerknirschung schlug gleich in den nächsten Wutausbruch um. »Genug mit diesem mystischen Quatsch, !Xabbu . Mir ist das zu hoch, schon immer gewesen. Ich will nicht sagen, daß du dich irrst, aber du sprichst eine Sprache, die ich nicht verstehe. Statt auf mich zu warten, erzähl mir lieber, was du zu tun gedenkst in diesem ganzen Schlamassel mit der Gralsbruderschaft und mit diesem Netzwerk, aus dem wir nicht wieder rauskommen. Wie sieht dein Plan aus?«
!Xabbu schwieg einen Augenblick, wie geschockt von ihrer Heftigkeit. Es war ihr peinlich, wie schwer ihr Atem ging, wie sehr sie die Beherrschung verloren hatte. Doch statt sich zurückzuziehen oder zu widersprechen, nickte !Xabbu nur ernst.
»Ich will dich nicht wütend machen, Renie, indem ich Dinge sage, an die du nicht glaubst, aber schon wieder hast du mit den Augen deines Herzens gesehen. Du hast eine Wahrheit gesprochen.« Eine Schwere, erdrückend wie ihre eigene, schien sich auf ihn zu legen. »Es ist wahr, daß ich nicht mehr weiß, was mir aufgetragen ist. Ich erzähle dir Geschichten, aber ich habe meine eigene Geschichte vergessen.«
Sie hatte auf einmal Angst, er könnte sie verlassen und sich auf eigene Faust in den Flußurwald aufmachen. »Ich wollte nicht…«
Er hob eine Pfote. »Du hast recht. Ich habe meine Bestimmung vergessen. In meinem Traum wurde mir gesagt, daß alle ersten Menschen zusammenkommen müssen. Deshalb bin ich auch in dieser Gestalt.« Er deutete auf seine behaarten Glieder. »Ich werde also tanzen.«
Das war das letzte, womit sie gerechnet hätte. »Du … du wirst was?«
»Tanzen.« Er drehte sich einmal im Kreis und nahm den Boden in Augenschein. »Es wird keinen Lärm machen. Du kannst dich wieder schlafenlegen, wenn du willst.«
Renie blieb starren Blicks sitzen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Auch Emily sah scheu zu, aber in ihren Augen glomm ein Licht, das vorher nicht dagewesen war, als ob die Mantisgeschichte sie in irgendeiner Weise berührt hätte. !Xabbu schritt einen Kreis ab, wobei er mit einer hinterherschleifenden Hand einen Strich auf den Boden zog, dann blieb er stehen und schaute zum Himmel auf. Ein morgenroter Schimmer
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