Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
dir tatsächlich nicht klar, stimmt’s?«
»Was ist mir nicht klar?«
»Wie überaus wichtig du bist.«
Renie hatte nicht die geringste Lust, sich von irgendwem mit Larifari aufmuntern zu lassen, auch nicht von !Xabbu . »Hör zu, du meinst es bestimmt gut, aber ich weiß, was ich kann und was ich nicht kann. Und im Augenblick bin ich weit davon entfernt, irgendwas ausrichten zu können. Wie wir alle, denke ich.« Sie versuchte die Energie aufzubringen, es ihm richtig zu erklären – ihm begreiflich zu machen, wie hoffnungslos alles war –, aber sie hatte so gut wie keine Reserven mehr. »Verstehst du denn nicht? Wogegen wir angetreten sind, das ist viel größer, als wir je dachten, !Xabbu . Und wir haben genau nichts erreicht – gar nichts! Kein Gedanke, daß wir der Gralsbruderschaft irgendwelche Schläge versetzt hätten, nein, die haben noch nicht mal gemerkt, daß wir hier sind! Und wenn sie’s wüßten, wär’s ihnen egal. Wir sind ein Witz – ein Haufen Flöhe, die Pläne machen, wie sie den Elefanten zu Fall bringen.« Ihre Stimme klang gefährlich brüchig. Sie biß sich ärgerlich auf die Unterlippe und war entschlossen, nicht wieder loszuheulen. »Wir waren so … so dumm. Wie sind wir bloß auf den Gedanken gekommen, wir könnten einen derart großen, derart mächtigen Feind in die Knie zwingen?«
!Xabbu blieb lange schweigend auf den Fersen hocken, den Schürstock fest mit der kleinen Hand umklammert. Er starrte in die Flammen, als studierte er eine besonders schwierige Stelle in einem Lehrbuch. »Aber du bist das geliebte Stachelschwein«, sagte er schließlich.
Die Bemerkung kam so unerwartet, daß Renie einfach lachen mußte. »Ich bin was?«
»Das Stachelschwein. Das ist die Schwiegertochter von Großvater Mantis und in vieler Hinsicht von allen ersten Menschen diejenige, die er am liebsten hat. Irgendwann einmal sagte ich, ich würde dir gern die letzte Geschichte vom Mantis erzählen.«
» !Xabbu , ich glaube nicht, daß ich zur Zeit die Kraft…«
»Renie, ich habe dich bis jetzt um nichts gebeten. Jetzt bitte ich dich. Bitte hör dir diese Geschichte an.«
Erstaunt über die Dringlichkeit in seiner Stimme blickte sie von der Glut auf. Ein bettelnder Pavian hatte etwas unbedingt Lächerliches mit seinen flehend erhobenen kleinen Händen, aber sie konnte nicht lachen. Er hatte recht. Er hatte sie nie um etwas gebeten.
»Also gut. Erzähl.«
!Xabbu wiegte den Kopf, dann hielt er die Schnauze eine Weile auf den Boden gerichtet und dachte nach. »Dies ist die letzte Geschichte vom Mantis«, begann er endlich. »Nicht, weil es sonst keine Geschichten mehr zu erzählen gäbe – es gibt viele, viele, die ich dir noch nicht erzählt habe –, sondern weil sie von den letzten Dingen handelt, die ihm in dieser Welt widerfuhren.«
»Ist sie traurig, !Xabbu ? Ich weiß nicht, ob ich im Moment eine traurige Geschichte verkraften kann.«
»Alle ganz wichtigen Geschichten sind traurig«, erwiderte er. »Was in der Geschichte oder was danach passiert, ist immer traurig.« Er streckte eine Pfote aus und berührte sie am Arm. »Hör bitte zu, Renie.«
Sie nickte müde.
»Dies ist eine Geschichte von Großvater Mantis gegen Ende seines Lebens, wo bereits Schwarze und vielleicht sogar Weiße in das Land meiner Ahnen gekommen waren. Wir wissen das, weil sie mit Schafen anfängt, die mit den schwarzen Hirtenvölkern kamen. Diese Männer schleppten ihre Schafe in großen Herden ein, damit sie das dünne Gras abweideten, das alle von Großvater Mantis und seinen Jägern geliebten Tiere ernährte – die Elenantilope, den Springbock, das Hartebeest.
Der Mantis sah diese Schafe und erkannte, daß sie Tiere einer neuen Art waren. Er machte Jagd auf sie und fand es sowohl erfreulich als auch besorgniserregend, daß sie so leicht zu erlegen waren – mit Geschöpfen, die derart passiv auf den Tod warteten, stimmte etwas nicht. Doch als er zwei mit seinen Pfeilen geschossen hatte, fielen die schwarzen Männer, denen sie gehörten, über ihn her. Die Männer waren so zahlreich wie die Ameisen, und sie schlugen auf ihn ein. Zuletzt zog er seinen Umhang aus Hartebeestfell um sich, so daß sein Zauber sie blendete, und so gelang ihm die Flucht. Er schaffte es zwar, die zwei getöteten Schafe mitzunehmen, aber die Hirten hatten ihn gründlich verprügelt. Als er endlich humpelnd in seinem Lager ankam, seinem Kraal, war er so matt und zerschunden und blutig, daß er das Gefühl hatte, sterben zu
Weitere Kostenlose Bücher