Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Erde. Ihr dünner Rücken bebte vor kaum noch zu unterdrückendem Grauen. Renie war besorgt, aber diese Beobachter machten einen so scheuen und hilflosen Eindruck, daß sie das Gefühl hatte, die Kreaturen, ob umgemodelt oder nicht, stellten keine unmittelbare Bedrohung dar. Dennoch rief sie zu ihrem Freund hinüber.
» !Xabbu . Mach jetzt nichts Abruptes, aber wir haben Besuch.«
Er tanzte weiter, Stampfen, Schurren, Schurren, Stampfen. Wenn er nur so tat, als hörte er sie nicht, verstellte er sich ganz hervorragend.
» !Xabbu . Ich wünschte, du würdest jetzt aufhören.« Hinter ihr gab Emily einen leisen erstickten Angstlaut von sich. Ihr Freund schien immer noch nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn herum vorging.
Weitere verstümmelte Gestalten wurden sichtbar. Mindestens ein Dutzend von ihnen hatten in dem Dickicht am Rand des Lagers einen Halbkreis gebildet, scheu wie Antilopen, und Renie hörte hinter sich ebenfalls ein leises Rascheln. Sie und ihre Gefährten wurden langsam umzingelt.
» !Xabbu !« sagte sie, lauter jetzt. Und er hörte auf.
Der Pavian torkelte, dann fiel er hin. Bis Renie bei ihm war, hatte er sich schon wieder halb aufgesetzt, aber die Art, wie sein Kopf auf dem Hals wackelte, machte ihr Angst, und obwohl sie ihn hielt und seinen Namen sagte, nahmen seine Augen sie nicht wahr. Ein unverständlicher Redestrom mit Klick- und Schnalzlauten kam aus seinem Mund und verblüffte sie, bis ihr klar wurde, daß das Übersetzungsgear des Netzwerks offenbar keine Buschmannsprachen kannte.
» !Xabbu , ich bin’s, Renie. Ich kann dich nicht verstehen.« Sie kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Ein tanzender und meditierender !Xabbu war eine Sache, aber ein völlig kommunikationsunfähiger !Xabbu war eine würgende und erschreckende Vorstellung.
Die Pavianaugen kamen wieder unter den Lidern hervor, und das unverständliche Reden, flüssig und doch mit hart knackenden Lauten durchsetzt, klang zu einem Flüstern ab. Auf einmal sagte er schwach: »Renie?« Ihr Name, dieses eine Wort, war eine der schönsten Sachen, die sie je gehört hatte. »Oh, Renie, ich habe Dinge gesehen, Dinge erfahren – ich kann die Sonne wieder klingen hören.«
»Wir haben jetzt keine Zeit, darüber zu reden«, sagte sie leise. »Diese Wesen, die wir schon vorher gesehen haben – sie sind hier. Sie umringen das Lager und beobachten uns.«
!Xabbu riß die Augen weit auf, aber er schien nicht gehört zu haben, was sie gesagt hatte. »Ich war dumm.« Seine offensichtliche gute Laune war befremdlich. Renie fragte sich, ob er vielleicht ein wenig verrückt geworden war. »Ah, es ist bereits anders.« Seine Augen wurden schmal. »Aber was fühle ich da eigentlich? Was ist anders?«
»Ich sag doch, diese Wesen sind da! Sie haben uns ganz umzingelt.«
Er entwand sich ihren Armen, warf aber nur einen flüchtigen Blick auf den Ring halbmenschlicher Gestalten, ehe er sich wieder Renie zuwandte. »Schatten«, sagte er. »Aber irgend etwas ist mir entgangen.« Zu ihrer Verwunderung hielt er seine lange Schnauze dicht an ihr Gesicht und beschnüffelte sie.
» !Xabbu ! Was machst du?« Sie schob ihn weg, denn sie befürchtete, jetzt, wo der Tanz des Buschmanns vorbei war, könnten die Lauscher gewalttätig werden. !Xabbu widersetzte sich nicht, sondern ging einfach um sie herum und beschnüffelte sie von der anderen Seite. Seine Affenhände strichen zart über ihre Arme und Schultern.
Die Zuschauer kamen jetzt aus dem Dickicht hervor und traten auf die Lichtung, näher an das Lager heran. Ihre Bewegungen hatten nichts Bedrohliches, aber sie waren dennoch ein furchterregender Anblick, eine Kollektion der verschiedensten Mißbildungen – zu tief sitzende Köpfe, aus dem Brustkasten wachsende Arme, zusätzliche Beine, Hände am Rücken aufgereiht wie die Knochenplatten von Dinosauriern, und sämtliche Modifikationen allem Anschein nach plump und achtlos ausgeführt. Am allerschlimmsten jedoch waren die Augen der zusammengeflickten Gestalten – stumpf vor Schmerz und Furcht drückten sie dennoch ein Bewußtsein des eigenen Leidens aus.
Kurz entschlossen wollte Renie !Xabbu packen, doch der entzog sich ihr und fuhr fort, sie zu beschnüffeln und zu befühlen und ihre Fragen zu ignorieren. Fast hätte sie vor Entsetzen und Verwirrung den Kopf verloren, da ging auf einmal ein lautes Seufzen durch die ungeheuerliche Menschenherde. Renie erstarrte in dem sicheren Gefühl, daß die Wesen im nächsten Moment angreifen würden,
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