Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
›Gib acht, wann der Strauch abbricht. Wenn du dann siehst, daß alle Sträucher dort oben verschwunden sind, halte nach dem Schatten Ausschau. Denn seine Zunge wird alle Sträucher hinwegraffen, noch bevor er hinter dem Hügel aufgetaucht ist. Dann wird sein Körper erscheinen, und alle Sträucher ringsherum werden verschlungen sein, und wir werden nicht mehr geschützt sein.‹
Der Mantis erwiderte: ›Ich sehe immer noch nichts.‹ Jetzt bekam auch er es mit der Angst zu tun, aber er hatte den Allverschlinger eingeladen, und der Allverschlinger kam.
Die Stachelschweinfrau sagte: ›Du wirst eine Feuerzunge in der Dunkelheit sehen, denn alles, was ihm im Weg steht, zerstört er, und sein Maul schlingt alles hinunter.‹ Und damit ging sie davon und nahm das Springbockfleisch mit, das versteckt worden war, und gab es ihren beiden jungen Söhnen, denn sie sollten für die bevorstehenden Ereignisse stark sein.
Und während Großvater Mantis wartend dasaß, legte sich ein großer, großer Schatten auf ihn. Er rief nach dem Stachelschwein: ›O Tochter, warum wird es so dunkel, wo doch gar keine Wolken am Himmel sind?‹ Denn in dem Moment merkte er, was er getan hatte, und er fürchtete sich sehr.
Der Allverschlinger sprach mit seiner schrecklichen hohlen Stimme: ›Ich bin eingeladen worden. Jetzt mußt du mich speisen.‹ Und er ließ sich im Lager des Mantis nieder und begann alles aufzufressen, denn in dem großen Maul, im Herzen des Schattens, brannte eine Feuerzunge. Erst verzehrte er die Schafe und zermalmte ihre Knochen und verschlang ihre Vliese. Als er damit fertig war, fraß er das ganze andere Fleisch und die Tsama-Melonen und die Wurzeln und alle Samen und Blüten und Blätter. Dann verschlang er die Hütten und die Grabstöcke, die Bäume und sogar die Steine der Erde. Als er den Regenbogen hinunterschluckte, den Sohn des Mantis, nahm die Stachelschweinfrau ihre beiden Kinder und lief fort. Während sie flohen, würgte der Allverschlinger die Frau des Mantis hinunter, die Klippschlieferin, und dann verschwand sogar Großvater Mantis selbst in dem Bauch, der sich jetzt von einem Horizont zum anderen erstreckte.
Die Stachelschweinfrau nahm den Speer, den ihre Söhne versteckt hatten, und erhitzte ihn im Feuer, bis er glühte, denn sie wollte erproben, ob ihre Söhne tüchtig genug waren, um die vor ihnen liegende Aufgabe zu bestehen. Sie preßte dem Jüngeren Regenbogen und dem Ichneumon die heiße Speerspitze auf Stirn, Augen, Nase und Ohren, um sicher zu sein, daß sie tapfer genug waren, um die Aufgabe zu erkennen und zu verstehen. Die Augen des Ichneumons füllten sich mit Tränen, und sie sprach: ›Du bist der Sanfte, du wirst zur Linken meines Vaters sitzen.‹ Aber die Augen des Jüngeren Regenbogens wurden nur immer trockener, je mehr sie ihn brannte, und sie sprach: ›Du bist der Grimmige, du wirst zur Rechten meines Vaters sitzen.‹ Dann brachte sie die beiden zum Feuer zurück, und sie setzten sich jeder auf eine Seite des Allverschlingers, der immer noch Hunger hatte, obwohl er fast alles unter dem Himmel vertilgt hatte.
Er setzte gerade an, auch sie aufzufressen, da packten statt dessen die Brüder seine Arme, zogen sie nach hinten und zerrten ihn zu Boden. Trotz seiner großen Stärke rangen sie ihn nieder und hielten ihn fest, obwohl die Flammenzunge in seinem schwarzen Maul sie verbrannte, dann nahm der Jüngere Regenbogen den Speer seines Vaters und schlitzte auf Geheiß seiner Mutter Stachelschwein dem Allverschlinger den Bauch auf. Er und das Ichneumon rissen den Bauch weit auf, und alles, was der Allverschlinger gefressen hatte, kam in einem großen Schwall heraus – Fleisch und Wurzeln und Bäume und Sträucher und Menschen. Sogar Großvater Mantis kam zum Schluß heraus, verändert und schweigsam.
Die Stachelschweinfrau sagte: ›Ich merke, daß alles sich verändert hat. Jetzt ist die Zeit gekommen, daß wir weggehen und eine neue Heimat finden müssen. Wir werden meinen Vater, den Allverschlinger, hier im Kraal liegen lassen. Wir werden weit weggehen. Wir werden eine neue Heimat finden.‹ Und sie führte ihren Schwiegervater und ihre ganze Familie aus der Welt hinweg und in eine neue Heimat, wo sie heute noch leben.«
Die Vorstellung, wie der kleine Mantis sich ängstlich duckte, während der Himmel sich verdunkelte und der Allverschlinger über ihn kam, hatte Renie völlig in ihren Bann geschlagen, und so wurde sie zunächst gar nicht richtig gewahr, daß die
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