Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
ahnte ich Möglichkeiten, die förmlich in der Luft lagen. Bestimmte Höcker, bestimmte Flächen fühlten sich an wie: so und nicht anders. Wenn ich es auf eine bestimmte Art streichelte oder drückte, merkte ich, daß genau das die Absicht seines Erfinders gewesen war. Und bei einer bestimmten Abfolge von Berührungen, die ich vornahm, ging plötzlich ein Gateway auf. Ich konnte es in der Ferne leuchten sehen.«
»Aber ich konnte nichts sehen. Erst als wir dort hinkamen.«
»Ich glaube nicht, daß du dazu in der Lage gewesen wärst. Dieses Gerät, dieses Ding, das wie ein Zigarettenanzünder aussieht, gehört einem aus der Gralsbruderschaft, da bin ich sicher. Derjenige, der es in der Hand hält, kann Dinge sehen, die anderen verborgen sind, kann tun, was Götter tun können. Wenn wir es richtig anstellen könnten, würden wir zweifellos viele wunderbare Möglichkeiten entdecken, die sich uns damit bieten.«
Renies Herz schlug schneller. Das waren gute Neuigkeiten – nein, das waren hervorragende Neuigkeiten! Vielleicht konnte es ihnen gelingen, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sie blickte das glänzende Metallding an, das !Xabbus dünne Faust immer noch umklammert hielt, und fühlte zum erstenmal seit Tagen die Hoffnung wiederkehren.
»Doch ich sah auch andere Dinge«, fuhr er fort. »Nein, nicht ›sah‹ – das ist ein irreführendes Wort. Erkannte? Fühlte? Ich bin mir nicht sicher. Aber mir wurde klar, daß die Kreaturen des Löwen, diese traurigen, zerrissenen Menschenwesen, nichts weiter waren als Schatten, nicht lebendiger als die Bäume oder die Steine oder der Himmel an jenem Ort. Der Löwe allerdings war genauso lebendig wie Emily.« !Xabbu warf dem schlafenden Mädchen einen raschen Blick zu. »Er war ein realer Mensch oder wenigstens eine einflußnehmende Kraft, nicht bloß ein Teil der Simulation.«
»Und das kannst du jetzt auch erkennen? Was real ist und was nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Das war nur in diesen Minuten so, als das Gefühl ganz stark in mir war. Manchmal, wenn wir getanzt haben, ist es, als ob wir an einem hohen Ort stehen und über weite Entfernungen oder mit großer Schärfe sehen. Aber nicht immer, und selbst wenn das eintritt, ist es nicht von Dauer.« Er wandte sich der Schlafenden zu. »Emily kommt mir jetzt nicht mehr oder weniger real vor als da, wo wir sie zum erstenmal sahen.«
»Aber du könntest dich wieder in diesen Zustand versetzen!«
Er gab ein leises Bellen von sich, ein müdes Lachen. »Das ist nichts, was man an- und abstellen kann, Renie, wie einen von euren Apparaten. Ich war in großer Not, und ich tanzte, um Antworten zu erhalten. Einen Augenblick lang hatte ich viele Antworten. Ich sah, was real war und was nicht, und ich rief ein Gateway auf. Doch auch während dessen hatte ich keine Ahnung, wohin das Gateway führte, und aus diesem Grund sind wir jetzt an diesem sonderbaren Ort. Und ich könnte ein Jahr lang jede Nacht tanzen, ohne daß es sich wiederholte.«
»Entschuldige«, sagte sie und meinte es ehrlich. »Es war bloß … bloß eine Hoffnung.«
»Aber es gibt allen Grund zur Hoffnung. Wir haben dieses Ding, das Azador bei sich hatte. Es hat einen Durchgang geöffnet. Ich kann dir nicht versprechen, daß ich seine Funktionsweise noch einmal so gut verstehen werde wie vorhin in der Trance, aber es kommt aus deiner Apparatewelt – es gehorcht Regeln. Durch irgend etwas können wir es wieder zum Funktionieren bringen.«
»Darf ich es mal haben?« Sie nahm es so vorsichtig von ihm entgegen, als wäre es eine Seifenblase. Obwohl es allein in der kurzen Zeit, seit sie davon wußte, eine ziemlich rauhe Behandlung überlebt hatte – es war auf den harten Zellenboden und das Deck des Schleppkahns gefallen, mit durch den Fluß geschwommen –, war es auf einmal kostbar geworden; sie wollte nicht riskieren, daß es irgendwie zu Schaden kam.
Es sah nicht anders aus als vorher, ein klobiges, altmodisches Feuerzeug mit einem verschnörkelten Y als erhabenem Monogramm. Selbst mit ihrem Wissen um seine eigentliche Funktion deutete nichts darauf hin, daß es mehr war, als es zu sein schien. »Wie hast du … was hast du damit gemacht?« fragte sie ihn, wobei sie mit der Fingerspitze über die erhabene Linie des Monogramms strich. »Daß es funktioniert hat.«
»Das ist schwer zu erklären.« !Xabbu gähnte abermals. »Ich sah zu dem Zeitpunkt mit meinen wahrsten Augen. Aber es gibt bestimmte Arten, mit den Fingern
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