Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
offensichtlich dazu verdammt, obendrein auch noch durch Raum und Zeit zu treiben, ziellos herumzuirren wie ein Mann, der nach der Öffnungszeit in einem unabsehbar großen Museum eingeschlossen war.
Ja, genau das war es, was er gemacht hatte – sich treiben lassen. Selbst hier in dieser kalten Urzeitwelt, wo ihm sein Gedächtnis – wenigstens zum größten Teil – wiedergekehrt war, hatte er andere für sich entscheiden lassen. Die Jäger hatten ihn aus dem Fluß gezogen, als er sich nicht selbst befreien konnte, und hatten entschieden, er sei… was hatte Läuft-weit gesagt? … ein Mann aus dem Totenreich. Und er hatte sich gefügt und sich bloß ohnmächtig selbst bemitleidet, genau als ob jemand auf den letzten freien Platz in der U-Bahn eine Aktentasche gestellt und ihn damit gezwungen hätte zu stehen.
Flußgeist hatten sie ihn genannt. Damit lagen sie richtiger, als sie ahnen konnten. Denn überall, wo er auf dieser Irrsinnsfahrt bisher gewesen war, hatte er sich mitziehen lassen wie ein heimatloses Gespenst. Und überall, wo er gewesen war, war er früher oder später in einem Fluß geschwommen, als ob es stets derselbe Fluß wäre, die perfekte Metapher für sein unselbständiges Leben, immer wieder derselbe Fluß…
Eine jähe Erinnerung schnitt durch Pauls schweifende Gedanken. »Sie werden auf dem Fluß nach dir suchen.« Irgendwer hatte das zu ihm gesagt. War es ein Traum gewesen, einer seiner überaus merkwürdigen Träume? Nein, es war die Stimme aus dem goldenen Kristall gewesen – in seinem Traum war es eine singende Harfe gewesen, aber hier in der Eiszeit hatte der Kristall zu ihm gesprochen. »Sie werden auf dem Fluß nach dir suchen«, hatte der Kristall ihm gesagt. Es stimmte also – der Fluß bedeutete wirklich etwas. Vielleicht kam er deswegen nicht davon los.
Paul stutzte. Durch den Schmerz und die Verwirrung drang etwas in sein Bewußtsein, keine Erinnerung, sondern ein Gedanke. Er erfüllte ihn mit einer bitteren Klarheit, die in dem Augenblick alles andere verdrängte. Er hatte sich treiben und treiben lassen, aber das war jetzt vorbei. Wenn er nicht für alle Zeiten dahinwehen und -trudeln wollte wie ein Blatt im Wind, mußte er zu einem gewissen Grad die Zügel in die Hand nehmen.
Der Fluß ist der Übergang von einem Ort zum andern. Er wußte das mit vollkommener Sicherheit, obwohl ihm der Gedanke eben erst gekommen war. Das Land hinter den Spiegeln, die Marswelt, hier – jedesmal bin ich aus dem Fluß gekommen. Das heißt, wenn ich danach suche…
Wenn er danach suchte, hatte er eine Richtung. Wenn er ihn fand, würde sich alles verändern, und er würde einem gewissen Verständnis näher kommen.
Er versuchte krampfhaft, sich an den Weg zu erinnern, den der Jagdtrupp des Menschenstammes genommen hatte, oder sich am Stand des Mondes zu orientieren, doch er hatte solche Fertigkeiten in seinem anderen Leben nie erworben, so daß ihm hier schon der Versuch hochstaplerisch vorkam. Aber eines wußte er, nämlich daß Wasser sich immer die tiefsten Stellen suchte. Er mußte weiter bergab gehen. Wenn er nach unten ging, mußte er irgendwo herauskommen. Er wollte sich nicht mehr treiben lassen. Er wollte sich nie wieder treiben lassen.
Der Mond hatte den größten Teil seines Weges über die schwarzen Weiten hoch droben zurückgelegt, aber noch deutete nichts darauf hin, daß es bald tagen würde. Jeder Schritt war mittlerweile eine Qual, jedes Vorwärtstaumeln mit Versprechungen an seinen Körper erkauft, von denen er bezweifelte, daß er sie je würde halten können. Der einzige Trost war, daß er den steilsten Teil des Hangs hinter sich hatte; als er jetzt zwischen den strauchartigen, schneebedeckten Bäumen hindurchtappte, war das Gelände vor ihm beinahe eben.
Doch selbst ein so geringfügiges Gefälle war unter diesen Bedingungen ein Problem. Paul blieb auf den Speer gestützt stehen und dankte Vogelfänger innerlich dafür, daß er durch seinen Ritzer die Waffe mit Pauls Blut befleckt und damit tabu gemacht hatte. Dann kamen ihm Zweifel, ob das wirklich so war. Letztlich war die Art, wie Läuft-weit und Dunkler Mond die von ihm ausgehende Gefahr dargestellt hatten, der Grund dafür gewesen, daß Paul zum einen nicht getötet und zum andern mit warmen Fellen und einem Speer ausgesetzt worden war. Auf ihre Weise hatten die beiden möglicherweise versucht, ihm eine Chance zu geben.
Dann sollte er sie lieber nutzen. Er holte tief Luft und humpelte weiter.
Eine
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