Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
merkwürdige Vorstellung, daß er sein Leben höchstwahrscheinlich zwei Neandertalern zu verdanken hatte, Zeitgenossen seiner eigenen Ahnen aus unglaublich weit zurückliegenden Zeiten. Noch merkwürdiger war die Vorstellung, daß diese Menschen – die Menschen – ihr Leben in ihrer ureigenen Normalität verbracht hatten, bis er auf sie gestoßen war. Wer waren sie in Wirklichkeit? Wo war er?
Paul Jonas dachte immer noch darüber nach, als auf einmal der Wind wechselte und ihn vom Hügel herunter der Geruch des Todes anwehte.
Seine Haut straffte sich vor jäher Furcht, und alle Haare auf dem Kopf standen ihm zu Berge. Der Gestank kam nicht bloß von verwesendem Fleisch, Tierschweiß war darin und Urin und Kot und auch Blut. Er bedeutete Ausweglosigkeit. Endstation. Paul blickte sich um, und auf dem Hang hinter ihm blieb eine dunkle Gestalt augenblicklich stocksteif stehen, so daß er eine Sekunde lang meinte, seine Augen hätten ihn in der Dunkelheit getäuscht, die Gestalt wäre bloß ein Felsen. Doch da regte sich weiter oben am Hang eine andere Gestalt; als sie den Kopf wandte und schnuppernd den gedrehten Wind und die neuen Gerüche prüfte, die er herantrug, sah Paul Augen im Mondlicht gelbgrün funkeln.
Der stärker werdende Wind blies ihn wieder mit dem gräßlichen Geruch an, und sein Gehirn sandte die urtümlichsten Alarmsignale, so daß sich alle seine Muskeln anspannten. Von wachsender Panik erfaßt war ihm dennoch klar, daß es keinen Zweck hatte wegzulaufen. Noch eine schwere vierbeinige Gestalt kam schräg den Hügel herunter. Wenn sie ihn noch nicht angegriffen hatten, diese namenlosen Bestien, dann deshalb, weil sie sich ihrerseits nicht ganz sicher waren, was für ein Wesen er war, wie gefährlich er sein mochte. Doch wenn er floh … Selbst Paul, der als Junge weniger wilde Tiere gesehen hatte als die meisten Vorstadtkinder, hatte keinen Zweifel, daß er damit das allgemeingültige Signal für Essen fassen geben würde.
Sich umzudrehen und einen und noch einen behutsamen Schritt vorwärts zu tun, weiterzugehen trotz des Wissens, daß diese großen dunklen Gestalten hinter ihm waren und immer näher kamen, war vielleicht die tapferste Tat seines Lebens. Er verspürte einen absurden Drang zu pfeifen, etwa wie eine Figur in einem Trickfilm, die krampfhaft einen mutigen Eindruck machen will. Er wünschte, er wäre eine Trickfilmfigur, eine unwirkliche Erfindung, die auch den schrecklichsten Unfall überlebte und hinterher mit einem Plop wieder heil war, bereit zum nächsten Abenteuer.
Der Wind wechselte abermals die Richtung und blies ihm jetzt ins Gesicht, und Paul bildete sich ein, vom Hügel her ein tiefes, zufriedenes Knurren zu hören, als die Bestien seine Witterung wieder in die Nase bekamen. Er hatte nur eine Chance, und die war, einen Platz zu finden, wo er ihnen wirksam trotzen konnte – eine Höhle, einen hohen Felsen, einen Baum zum Draufklettern. Kein Wunder, daß die Menschen sich Höhlen im Berg als Wohnung suchten. Er, der im Urlaub immer an sonnige Strände und höchstens einmal für ein paar Tage in die schottischen Highlands oder die Cotswolds gefahren war, hatte nie wirklich einen Sinn für die scheußliche, öde Einsamkeit der Wildnis gehabt. Doch jetzt war er in einer Wildnis, wie er sie sich wilder gar nicht vorstellen konnte.
Der Schnee lag hier flacher, und obwohl er jetzt ein bißchen schneller gehen konnte, war der Untergrund noch heimtückischer geworden, als ob eine Schicht Eis unter dem Schnee läge. Paul fluchte innerlich, aber setzte weiter einen Fuß vor den anderen. Er konnte es sich nicht leisten auszurutschen. Für die Kreaturen hinter ihm würde Hinstürzen zweifellos unter dieselbe Rubrik fallen wie Weglaufen.
Etwas bewegte sich auf der rechten Seite seines Gesichtsfeldes. So vorsichtig, wie er konnte, drehte er den Kopf danach um. Der Schatten trottete am Rand des Schneefeldes entlang, immer im gleichen Abstand, aber nur einen weiten Steinwurf entfernt. Seine struppige Kopf- und Rückenpartie war hundeähnlich, aber irgendwie wirkte sie falsch, verzerrt. Dampf stieg in kleinen Wolken aus seinem Rachen auf.
Der Boden unter seinen Füßen war inzwischen fast völlig eben, aber selbst die verkümmerten Bäume wurden rar. Vor sich sah er nichts als konturlose Weiße – keine Steine, keine Zuflucht. Er schaute über die Schulter und überlegte, ob er einen Bogen schlagen und wieder den Hang hinauf zu einigen der Felsen zurückgehen konnte, an denen er vorher
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