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Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer

Titel: Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Sein Kopf pochte, seine Knochen fühlten sich gebrochen an. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund und spuckte einen dunklen Klumpen Blut aus, der in dem weißen Hang ein kleines Loch machte. Er schluchzte beim Atemholen. Ein fernes Heulen – wie von einem Wolf, aber viel tiefer – erscholl, lauter und leiser werdend, und hallte über die weiße Mondlandschaft, ein erschreckender, urtümlicher Ton, wie zur Untermalung seiner eigenen hoffnungslosen Einsamkeit.
    Sie haben mich zum Sterben ausgesetzt. Er schluchzte wieder, wütend und hilflos, aber schluckte es hinunter. Er wollte nicht weinen, weil er fürchtete, dann zusammenzubrechen. Er wußte nicht, ob er ein zweites Mal in der Lage wäre aufzustehen.
    Etwas Langes und Dunkles lag zu seinen Füßen im Schnee und rief ihm Läuft-weits Worte ins Gedächtnis zurück. Vogelfängers Speer. Er starrte darauf, aber konnte darin erst einmal nichts anderes erblicken als eine Stütze. Er schlang den Fellumhang fester um sich – was war das für ein Todesurteil, daß sie ihm etwas zum Anziehen gelassen hatten? – und bückte sich vorsichtig. Fast wäre er vornübergekippt, doch er fing sich und machte sich an die komplizierte Aufgabe, den Speer aufzuheben. Seine Beine drohten einzuknicken, und sein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen. Schließlich schloß er die Hand um den Schaft und drückte sich wieder hoch.
    Der Wind frischte auf. Er biß und kratzte.
    Wo soll ich hin? Einen Moment lang erwog er, den Fußspuren zurück zur Höhle zu folgen. Wenn er sie nicht überreden konnte, ihn wieder hineinzulassen, vielleicht konnte er dann wenigstens ihr Feuer stehlen, wie in der Geschichte, die Dunkler Mond erzählt hatte. Doch selbst mit dem Kopf voller Blut und Scherben wußte er, daß das Wahnsinn war.
    Wohin sollte er gehen? Schutz war die Antwort. Er mußte einen Platz finden, wo der Wind ihn nicht erreichen konnte. Dort würde er warten, bis es wieder wärmer wurde.
    Bis es wärmer wird. Der schwarze Humor der Vorstellung reizte ihn zum Lachen, aber er brachte nur ein keuchendes Husten heraus. Und wie lange soll das dauern? Wie lange dauert denn eine Eiszeit, bitte sehr?
    Er machte sich auf den Weg, den Hügel hinunterzustapfen. Jeder Schritt durch den tiefen Schnee war ein kleiner, ermüdender Kampf in einem Krieg, den zu gewinnen er nicht im Ernst hoffen konnte.
     
    Der Mond war über die Baumwipfel gestiegen und hing jetzt voll und dick vor ihm, beherrschte den Himmel. Er wagte nicht, sich vorzustellen, was er in einer mondlosen Nacht gemacht hätte. Auch so erkannte er immer noch viele der heimtückischen tiefen Stellen im silbrigen Schnee nicht rechtzeitig, um ihnen auszuweichen, und jedesmal, wenn er in ein Loch gesackt war, brauchte er länger, um sich wieder herauszuarbeiten. Als Schuhe hatte er dicke Hautstücke mit der Fellseite nach innen an, aber seine Füße waren dennoch so kalt, daß er sie schon seit einiger Zeit nicht mehr spürte. Jetzt hatte er den Eindruck, daß seine Beine ein gutes Stück über den Knöcheln aufhörten. Man brauchte kein Universitätsstudium, um zu wissen, daß das ein schlechtes Zeichen war.
    Schnee, dachte er, während er hüfttief in dem Zeug steckte. Zuviel Schnee. Solche und ähnliche unerträglich banalen Gedanken hatten ihn in der letzten Stunde begleitet. Es kostete Kraft, sie zu verscheuchen, konzentriert zu bleiben, und er hatte dafür nicht mehr genug Kraft übrig.
    Schnee – Schneemann, Schneemond, Schneetreiben. Er hob einen Fuß hoch – er war sich nicht ganz sicher, welchen – und setzte ihn wieder ab, daß er durch die Kruste sank. Der Wind biß ihm ins Gesicht, in die nicht von dem Umhang geschützten Backen. Schneetreiben.
    Treiben, alles trieb so dahin. Er hatte nie etwas anderes gemacht als sich treiben lassen – durchs Leben, durch Schule und Universität, durch seine Arbeit in der Tate Gallery, wo er Grüppchen kunstbeflissener Damen bei Führungen immer wieder mit denselben müden Späßchen erheitert hatte. Früher hatte er gedacht, er würde einmal etwas werden, eine bedeutende Persönlichkeit. Als Kind hatte er darüber gegrübelt, ohne daß es ihm richtig bewußt gewesen war, hatte kein klares Bild davon entwickeln können, was diese einstige Persönlichkeit machen, wer diese Persönlichkeit tatsächlich sein würde. Und als ob ein Gott der Nieten und Versager seine Richtungslosigkeit bemerkt und eine seinem Vergehen angemessene Strafe verhängt hätte, war er jetzt

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