Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
leisen Gespensterstimmchen. Renie gefiel dieser neue Ton noch weniger als der vorher.
Mit Hilfe von !Xabbus flinken Füßen und Händen gelang es ihnen, sie zur Luke hinaufzubefördern und von dort drei Körperlängen tief vorsichtig auf die Erde abzulassen. Die Libelle hatte sich bei dem Sturz mit der Schnauze in den Waldboden gebohrt und erinnerte jetzt an einen Doppeldecker aus dem Ersten Weltkrieg; die zarten Flügel waren nach vorn gefallen, und der glänzende, zylindrische Hinterleib zeigte himmelwärts.
»Ich kann nicht gehen«, murmelte Lenore. »Meine Beine gehorchen nicht.«
»Das ist absoluter Quatsch«, herrschte Cullen sie an. »Hör zu, falls du’s vergessen haben solltest, wir waren dem Eciton-Schwarm, na, ich schätze dreißig Minuten voraus, und es wird ein Mordsdonnerwetter im Stock geben, wenn wir sie nicht warnen.« Er stockte. Ein leicht zweifelnder Blick huschte kurz über sein langes Gesicht. »Ganz zu schweigen davon, daß wir uns in ihrer Bahn befinden.«
»O mein Gott.« In das Problem vertieft, Lenore aus dem kaputten Flugzeug hinauszuschaffen, hatte Renie die Ameisenarmee völlig vergessen. »Du lieber Himmel, die fressen uns auf. O Gott, wie gräßlich.«
»Die fressen uns nicht auf«, erwiderte Cullen genervt. »Sie können uns lediglich daran hindern, im Stock Alarm zu schlagen, und der Wiederaufbau und das Neuprogrammieren würden mehr Geld kosten, als ich mir überhaupt vorstellen kann. Das ist eine Simulation hier – du scheinst das ständig zu vergessen.«
Renie sah erst ihn an, dann !Xabbu , der die Augenbrauen hochzog und so ein kurioses Bild äffischen Defätismus bot. Er hatte recht: Es war witzlos, Zeit mit Streiten zu vergeuden. »Gut, es ist eine Simulation. Aber laß uns trotzdem aufbrechen, okay?«
Mit Renies und !Xabbus Hilfe nahm Cullen Lenore huckepack. »Was ist mit deinen Beinen?« fragte er. »Hast du Schmerzen?«
»Ich kann sie im Moment nicht fühlen … Ich kann sie schlicht nicht bewegen.« Lenore schloß die Augen und klammerte sich fest an Cullens Hals. »Ich will nicht reden. Ich will nach Hause.«
»Wir sind schon dabei, dich hinzubringen«, sagte Renie. »Aber jede Auskunft, die du gibst, kann …«
»Nein.« In ihrer Bockigkeit glich Lenore einem kleinen Kind. »Ich werde kein Wort mehr dazu sagen. Das ist dermaßen blöde. Nichts von alledem geschieht wirklich.«
Und das, überlegte Renie, während sie sich den Weg durch den Wald aus Gras bahnten, war so ziemlich die unsäglichste Bemerkung, die sie in letzter Zeit gehört hatte.
Obwohl er Lenores Gewicht auf dem Buckel hatte, war Cullen anfangs entschlossen, ihre kleine Schar auch noch anzuführen. Renie gab nur ungern die Kontrolle aus der Hand, doch bevor sie und der Entomologe die Sache ausfechten konnten, wies !Xabbu darauf hin, daß er zweifellos am besten dafür geeignet sei, voranzugehen. Nachdem Cullen überzeugt worden war, daß !Xabbu eine lange Erfahrung als Jäger und Pfadfinder hatte und daß es daher wissenschaftlich sinnvoll war, erklärte er dem Buschmann, in welcher Richtung der Stock lag, und !Xabbu machte sich daran, einen Weg durch den Bodendschungel zu finden.
Es war eine der merkwürdigsten und surrealsten Touren, die Renie je unternommen hatte – und angesichts dessen, was sie in den letzten paar Monaten erlebt hatte, sagte das eine ganze Menge. Die Welt aus der Insektenperspektive war ein Wunder voll erschreckender und doch faszinierender Dinge. Eine Raupe, die sie in der wirklichen Welt kein zweites Mal angeschaut hätte, war hier eine schimmernde, omnibusgroße Erscheinung wie aus einer psychedelischen Erfahrung, nur eben lebendig. Während sie und die anderen vorsichtig daran vorbeidefilierten, machte die Raupe auf dem Blatt, das sie gerade abfraß, gewissermaßen einen Schritt nach vorn, und diese Bewegung lief wellengleich von vorn nach hinten durch alle Beine wie bei einer Revuetruppe. Als der lange Schritt vorbei war, nahmen sich die vertikalen Beißwerkzeuge wieder das Blatt vor und machten dabei einen Radau wie die Kartonschneidemaschine in der Fabrik, in der Renie einmal einen Ferienjob gehabt hatte.
Der Weg zum Stock führte sie durch einen ganzen Safaripark voll chitingepanzerter Wunderwesen: Blattläuse hingen an Pflanzenstengeln wie schwerelose Schafe, die auf einer umgedrehten Wiese grasten, Milben bohrten sich mit der Verbissenheit von Hunden, die nach vergrabenen Knochen buddeln, in verrottende Pflanzen, sogar ein Grashüpfer katapultierte sich
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