Otherland 2: Fluß aus blauem Feuer
Renie her.
»Dann bleib halt bei ihr!« Renie kam am Fuß des Stengels an, packte die dicken Fasern, die ihn wie einen Pelz bedeckten, und trat Halt suchend mit den Stiefeln, bis sie sich vom Boden hochgezogen hatte. Als sie den ersten Platz erreichte, wo sie stehen konnte, schaute sie zurück. Cullen schrie Lenore irgend etwas zu – unmöglich zu verstehen bei dem immer lauter werdenden Getöse –, aber sie hatte sich wieder in eine embryonale Kugel zusammengerollt und beachtete ihn gar nicht. Erneut versuchte er sie hochzuheben, was aber nur zur Folge hatte, daß sie ihn kratzte und mit den Ellbogen knuffte. Renie schüttelte den Kopf und kletterte weiter.
»Hier hoch.« !Xabbu rutschte ein Stück den Stengel hinunter und bewegte sich dabei in seiner Paviangestalt so mühelos, wie Renie es auf einer breiten Treppe getan hätte. »Setz den Fuß da drauf – ja, da. Warum will diese Lenore nicht kommen?«
»Schock vermutlich – ich weiß es nicht.« Renies Fuß glitt ab, und sie baumelte einen Moment lang strampelnd und zu Tode erschrocken an einem Arm in der leeren Luft, aber !Xabbu faßte mit beiden Händen nach unten und umklammerte ihr Handgelenk, bis sie den Mut aufbrachte, nach einer Trittfläche zu schauen. Als sie eine gefunden und wieder sicher Fuß gefaßt hatte, sah sie Cullen unten am Stengel ankommen und hinaufklettern.
Der Lärm schwoll immer weiter an, bis er wie das Brüllen des Ozeans in einer engen Bucht klang. Der Himmel füllte sich mehr und mehr mit hüpfenden und fliegenden Insekten in allen Größen. Einige zischten so dicht vorbei, daß ihre Flügelspitzen die äußeren Wedel des Farns streiften und zum Wackeln brachten. Die Horde auf dem Erdboden wurde noch zahlreicher. Zustoßende Ameisenvögel pickten sich etliche heraus, aber nichts konnte den Zug bremsen.
Renie und !Xabbu erreichten einen Punkt in mittlerer Höhe, wo die Entfernung zum nächsten weit ausladenden Blatt so groß war, daß Renie nur mit außerordentlicher Schwierigkeit hinaufgekommen wäre, weshalb sie vom Hauptstengel weg in die geknickte Rille eines Blattes abbogen. Als sie darauf traten, schwankte der gekrümmte Wedel beunruhigend, aber eher von der Brise als von dem geringfügigen Gewicht der winzigen Menschlein.
Cullen erschien hinter ihnen; er redete mit sich selbst. »Es wird ihr schon nichts passieren. Es ist bloß … sie fliegt einfach raus. So was von vollblock, was das System da abzieht.«
Beim Anblick seines bleichen, besorgten Gesichts verspürte Renie keinen Drang mehr, mit ihm zu debattieren.
Sie arbeiteten sich über die haarige Blattoberfläche vor, bis sie dicht am äußeren Rand waren und weit unten Lenore in ihrem weißen Jumpsuit eingerollt am Boden liegen sahen wie ein hingefallenes Reiskorn. Da fühlte Renie, wie !Xabbus Hand ihren Arm umschloß. Sie sah auf und folgte mit den Augen seinem zeigenden Finger.
Ein kurzes Stück von ihnen entfernt lag ein kleiner Baum, der wohl vor langer Zeit umgestürzt und teilweise schon wieder im Waldboden aufgegangen war, so daß das Graubraun seiner Rinde nur an wenigen Stellen durch das Moos und die Gräser lugte, die darüber gewachsen waren. Aus Renies und !Xabbus Perspektive war er so hoch und lang wie ein Hügelkamm.
Die Eciton-Armee hatte die Kuppe des Baumstamms erreicht und schwärmte darauf aus wie Soldaten auf einem eingenommenen Berggrat. Die ersten Späher kamen soeben von ihren Vorstößen nach unten zurück, und vor Renies Augen floß jetzt die erste Ausstülpung aus wimmelnden Ameisenleiber hinunter auf den Waldboden. Der ganze Stamm verschwand unter einem lebendigen Ameisenteppich, und kurz darauf streckte der Schwarm seine Truppenfühler über die freie Fläche aus, die Renie und die anderen gerade geräumt hatten.
»Es ist nicht wirklich«, sagte Cullen heiser. »Denkt daran. Das sind Zahlen, kleine Gruppen von Zahlen. Wir betrachten Algorithmen.«
Renie konnte nur mit gebanntem Grauen die dahinströmenden Ameisen anstarren. Einer der vordersten Späher trat an Lenores regungslosen Körper heran und sondierte sie mit seinen Fühlern, wie ein Hund eine schlafende Katze beschnüffelt, bevor er sich umdrehte und zum nächsten Arm des Schwarms zurückeilte.
»Die Simulation schmeißt uns raus, wenn was passiert.« Cullen flüsterte jetzt beinahe. »Mehr nicht. Es ist ein Spiel, wie sie sagte. Kunoharas gottverdammtes Spiel.« Er schluckte. »Wie bringt sie es fertig, einfach bloß dazuliegen?«
!Xabbus Griff um Renies Arm wurde
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