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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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mit der er alles anging, von Sex bis Skilauf, und hatte darin eine Reihe prickelnder Abenteuer erlebt, die eines Tages unterhaltsame Vignetten in seiner Autobiographie abgeben würden. Aber das war der Unterschied zwischen ihnen: Niles segelte durch das Leben und an den Gefahren vorbei, Paul mußte Meerwasser spucken und den zerbrochenen Mast und das zerrissene Segel hinter sich herschleifen.
    Psilocybin hatte für Niles neue Farben und neue Erkenntnisse bedeutet. Für Paul hatte es einen ganzen Tag lang Panik bedeutet, Töne, die seinen Ohren weh taten, und eine beängstigende, bis zur Unkenntlichkeit verformte Bilderwelt. Am Schluß hatte er zusammengerollt und mit über den Kopf gezogener Decke in seinem Wohnheimbett gelegen und darauf gewartet, daß die Drogenwirkung endlich abklang, doch auf dem Höhepunkt der Erfahrung war er überzeugt gewesen, daß er verrückt geworden oder sogar in ein Koma gefallen war, daß sein eigener Körper ihm nie wieder gehorchen und er jahrzehntelang in einem winzigen, abgeriegelten Teil seines Bewußtseins eingesperrt sein würde, während seine äußere Hülle hilflos sabbernd in einem Pflegeheim im Rollstuhl herumgeschoben wurde.
    Überhaupt, dachte er, genau so könnte es derzeit mit mir stehen. Sein Körper unterstand schließlich nicht mehr seiner Kontrolle, sein Psilocybin-Albtraum war Wirklichkeit geworden – jedenfalls virtuelle. Doch die Welt um ihn herum, auch wenn sie noch so falsch sein mochte, wirkte so echt, daß er sich nicht in der gleichen entsetzlichen Weise eingesperrt fühlte.
    Die ganze Zeit über beobachtete er dabei gedankenverloren, wie Kalypsos Krug auf den Wellen tanzte, doch als jetzt die Erinnerungen abzogen, ging ihm auf, daß damit etwas nicht stimmte: Für einen Krug war die Form sehr sonderbar, und überhaupt schien er auf höchst untönerne Weise über einer Ansammlung von Treibgut zu hängen. Paul stemmte sich ächzend hoch und spähte in die tiefstehende Sonne.
    Der Krug war ein Körper.
    Diese Erkenntnis, die Erweiterung seiner gegenwärtigen Welt von einem auf zwei Bewohner, auch wenn der zweite eine Leiche sein mochte, war so bestürzend, daß Paul eine ganze Weile brauchte, um die Situation zu begreifen und sein Verantwortungsgefühl zu mobilisieren. Es wäre anders gewesen, wenn er den Körper ohne weiteres hätte erreichen können, aber die Attacken von Skylla und Charybdis hatten nicht nur den Mast zerstört, sondern auch sein kleines Gefährt von allen Steuerhilfen entblößt, unter anderem von seinen langstieligen Paddeln. Wenn er eine Rettungsaktion oder eher wohl eine etwas förmlichere Seebestattung durchführen wollte, würde er schwimmen müssen.
    Es war ein deprimierender Gedanke. Sein Arm war mit Sicherheit verstaucht, wenn nicht gebrochen, der andere Schiffbrüchige war fast mit Sicherheit tot und wahrscheinlich ohnehin kein realer Mensch gewesen, und Gott allein wußte, was für Homerische Ungeheuer diese Meere unsicher machten. Ganz zu schweigen von diesem bärtigen Monstrum Poseidon mit seinem einprogrammierten blinden Haß auf den Odysseussim, in dem Paul zur Zeit steckte.
    Darüber hinaus, und das war noch wichtiger, hatte er den dringenden Wunsch, weiterzukommen. Trotz der Rückschläge hatte er die Fahrt bis hierher überlebt und war entschlossener denn je, nach Troja zu gelangen, was auch immer sich daraus ergeben mochte. Er kämpfte darum, sein Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen – wieviel Energie durfte er auf andere Dinge verschwenden? Wie viele Irrwege durfte er einschlagen?
    Und während Paul auf die stille, regungslose Gestalt starrte, schlich die Sonne am Himmel dem Untergang entgegen.
     
    Am Schluß war es das Paradox der Bedürftigkeit, das den Ausschlag gab. Wenn er seine eigene Hilflosigkeit so stark und so qualvoll empfand, wie konnte er dann einem anderen Menschen die Hilfe verweigern? Was würde das über ihn aussagen? Wie wollte er überhaupt beurteilen, was in diesem Fall sein wahrer Eigennutz war – wie, wenn die schiffbrüchige Gestalt ein anderer Nandi war … oder Gally?
    Außerdem, dachte er trübsinnig, als er sich über den Rand ins Wasser ließ, ist es in der wirklichen Welt auch nicht so leicht zu sagen, wer tatsächlich ein Mensch ist und wer nicht. Du mußt einfach tun, was dir richtig erscheint, und das Beste hoffen.
    Trotz der relativ kurzen Strecke war das Schwimmen anstrengend, schmerzhaft und unheimlich. Paul mußte immer wieder den Kopf heben, um sich zu vergewissern, daß

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