Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
keine Angst – euer Onkel Jingle macht euch keinen Vorwurf. Bloß weil ich (hustet) STERBE, falls wir jetzt im Aktionsmonat in euerm Jingleporium den ’Lebensgefährlichen Überschuß’ nicht abgestoßen bekommen, müßt ihr euch nicht schuldig fühlen. Ich bin sichern ihr und eure Eltern tut … was ihr könnt. Außerdem hab ich keine Angst vor … vor dem großen Dunkel. Klar, ihr werdet mir fehlen, aber, he, selbst euer Onkel Jingle muß irgendwann mal abtreten, stimmt’s? Verschwendet ja keinen Gedanken an mich, wenn ich hier krank und traurig und einsam im Krankenhaus liege und sterbe … (flüstert) … aber es ist zu schade – die Preise sind sowas von tootaal niedrig …!«
> Paul wachte mit einem schmerzenden Kopf, noch stärkeren Schmerzen im Arm und Salzwasser im Mund auf.
Er prustete und spuckte, dann versuchte er stöhnend sich zu erheben, doch irgend etwas drehte ihm den Arm auf den Rücken. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, in welcher Lage er sich befand. Der Schleier mit der eingewobenen Feder war immer noch als nasses Knäuel um sein Handgelenk geschlungen und fesselte ihn an die Ruderpinne. Der gewaltige Wasserausstoß der Charybdis, von dem sein kleines Floß auf einer riesigen Fontäne emporgeschleudert worden war, hatte ihn auch wieder mit großer Wucht aufs Meer geschmettert; er konnte von Glück sagen, daß sein Arm nicht ausgekugelt war.
Er machte sich mit vorsichtigen Bewegungen los, um Ellbogen und Schulter ja nicht zu belasten, die sich beide anfühlten, als wäre ihnen flüssiges Feuer eingespritzt worden. Seine schwimmende Unterlage war beruhigend stabil und schaukelte nur leicht auf den Wellen. Die Sonne stand hoch im Zenit, heiß und unbarmherzig, und er wollte möglichst schnell wieder unter sein schützendes Halbdeck kriechen.
Doch als er sich endlich gerade hinsetzen konnte, mußte er feststellen, daß es kein Halbdeck mehr gab. Nur der Mast stand noch aufrecht an Deck, und von dem auch nur die untere Hälfte. Das Segel hatte sich an der Kante verfangen, aber schwamm jetzt zum größten Teil im Wasser; der restliche Mast, der immer noch am Segel hing, trieb einige Meter hinter dem Floß. Von Kalypsos Geschenken, den Schläuchen mit Wasser und Wein und den Krügen mit Speisen, war nichts mehr zu sehen, nur etwas Helles, das möglicherweise einer der Krüge war, wippte in gut hundert Meter Entfernung auf den Wellen. Außer den Silhouetten der beiden Felseninseln von Skylla und Charybdis, die jetzt so weit hinter ihm lagen, daß sie nur noch pastellene Schatten waren, war er ringsherum vom ebenen Horizont des Meeres umgeben.
Müde und zerschunden vor sich hinmurmelnd band sich Paul den Schleier um den Hals und machte sich an die qualvolle Arbeit, das schwere Segel einzuholen. Er zerrte auch den zersplitterten Mast an Bord, obwohl ihm sein Arm von der Anstrengung so weh tat wie ein fauler Zahn, spannte dann einen Zipfel der klatschnassen Plane auf und kroch darunter. Augenblicklich fiel er in einen bleischweren Schlaf.
Als er wieder unter dem Segel hervorkroch, konnte er nicht sicher sagen, ob der niedrigere Sonnenstand bedeutete, daß er bloß wenige Stunden oder rund um die Uhr geschlafen und einen vollen Tag verloren hatte. Andererseits war ihm das auch gleichgültig.
Das Wissen, daß das Trinkwasser fort war, machte seinen leichten Durst schlimmer, als er eigentlich war, aber es brachte ihn auch erneut zum Nachdenken über seinen wirklichen Körper. Wer kümmerte sich darum? Offensichtlich wurde er ausreichend ernährt und mit Wasser versorgt – Essen und Trinken beschäftigten ihn viel weniger, als es sonst der Fall gewesen wäre. Aber in was für einer Lage befand er sich? Wachten Schwestern oder sonstige Pflegekräfte mit barmherziger Sorge über ihn? Oder war er an ein automatisches Versorgungssystem angeschlossen und nur ein Gefangener der schattenhaften Gralsbruderschaft, von der Nandi gesprochen hatte? Es war beklemmend, sich seinen Körper als derart abgetrennt vorzustellen, ein Ding, das nicht wirklich mit ihm verbunden war. Aber die Verbindung bestand natürlich, auch wenn er sie nicht direkt fühlen konnte. Es mußte so sein.
Der ganze innere Wirrwarr erinnerte ihn ein wenig an seine einzige Erfahrung mit halluzinogenen Drogen – ein ebenso unkluger wie unglücklicher Versuch in seiner Studienzeit, wie sein Freund Niles zu sein. Niles Peneddyn war in die Welt der Bewußtseinsveränderung natürlich mit derselben Sorglosigkeit eingetaucht,
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