Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
ein paar Schritte den Flur hinunter, wo eine Tür offenstand. Dahinter war es dunkel und still, und so trat er ein, zerrte an dem Verschluß unten an seinem Gesichtsschutz und versuchte den Knopf zu finden, mit dem der obere Teil sich vom unteren trennen ließ, wie Del Ray ihm gezeigt hatte. Schließlich hatte er ihn und knautschte die Schutzmaske nach oben, damit er an seinen Mund kam, wobei er allerdings nichts mehr sah. Mit einem gewaltigen Schluck hatte er die Plastikflasche beinahe geleert und wog gerade ab, ob er sie ganz austrinken oder den Rest für den nächsten Notfall aufheben sollte, als sich auf dem Bett am hinteren Ende des Zimmers jemand bewegte. Joseph erschrak dermaßen, daß er die Flasche fallen ließ.
Er bewahrte einen bewundernswert kühlen Kopf: Trotz des Schocks gelang es ihm, die Flasche noch im Fallen aufzufangen. Als er sich wieder aufrichtete, die kostbare Flasche fest im Griff, erblickte er eine dicke Afrikaanderin, die sich von den Kissen abstieß und sich aufzusetzen versuchte.
»Ich läute und läute schon seit zehn Minuten«, sagte sie mit vor Schmerz und Ärger verzerrtem Gesicht. Sie musterte Joseph von Kopf bis Fuß. »Du hast die Ruhe weg, was? Ich brauche Hilfe!«
Joseph starrte sie einen Moment lang an und fühlte dabei, wie sich der Wein in seinem Magen in warmes Gold verwandelte. »Glaub ich sofort«, entgegnete er und wich dabei langsam zur Tür zurück, »aber gegen sowas von häßlich is kein Kraut gewachsen.«
»Menschenskind!« herrschte Del Ray ihn an, als er ihn sah. »Wo zum Teufel hast du gesteckt? Was hast du zu grinsen?«
»Wieso stehn wir eigentlich hier im Flur rum?« fragte Long Joseph. »Komm endlich, es wird Zeit.«
Del Ray schüttelte den Kopf und führte ihn auf den Hauptflur zurück.
Für ein kleines städtisches Krankenhaus hatte im Klinikum Durban Outskirt ein Haufen Zimmer Platz gefunden: Sie brauchten noch einmal zehn Minuten, um die Langzeitstation zu finden. Obwohl sie sich freuen konnten, daß ihnen peinliche Begegnungen erspart blieben, fand Joseph es eine Unverschämtheit gegen seinen Sohn und sich, daß so wenig Personal zu sehen war.
»Drogen schießen und rumvögeln tun sie alle«, knurrte er. »Genau wie im Netz. Kein Wunder, daß sie keinen geheilt kriegen.«
Del Ray fand schließlich den richtigen Korridor. Nach drei Vierteln des Ganges und einem guten Dutzend offener Türen, jede der grabesähnliche Eingang in einen Raum voll schattenhafter Körper unter trüben Plastikzelten, kam das Zimmer mit Sulaweyo, Stephen auf dem kleinen Namensschildhalter neben der Tür, unter drei anderen Namen.
Zuerst war es schwer zu sagen, welches der vier Betten das von Stephen war, und einen bitteren Augenblick lang wollte Joseph es fast nicht mehr wissen. Er konnte sich plötzlich des Eindrucks nicht erwehren, daß es besser wäre, auf der Stelle umzukehren. Was sollte es bringen? Wenn der Junge noch hier war, dann hatten die Ärzte ihm nicht geholfen, genau wie Joseph es im tiefsten Herzen angenommen hatte. Er hätte am liebsten den letzten Schluck getrunken, aber Del Ray war bereits an das hintere Bett auf der linken Seite getreten und wartete dort auf ihn.
Am Bett angekommen, blieb Long Joseph eine ganze Weile bewegungslos stehen und wurde aus dem, was er sah, nicht schlau.
Erst verspürte er eine gewisse Erleichterung. Das Ganze war ein Irrtum, soviel war klar. Das konnte nicht Stephen sein, auch wenn sein Name auf dem kleinen Bildschirm am Ende des Bettes stand, also hatten sie ihn vielleicht doch geheilt und bloß vergessen, die Namen und so weiter auszutauschen. Doch je länger Joseph die ausgezehrte Gestalt im Sauerstoffzelt anstarrte – Arme vor der Brust gekrümmt, Hände zu knochigen Fäusten geballt, Knie unter den Decken hochgezogen, so daß das Wesen dort im Bett fast wie das Kind im Bauch einer Schwangeren aussah, das er mal auf einem Illustriertenfoto gesehen hatte –, um so deutlicher erkannte er den bekannten Gesichtsschnitt, den Wangenbogen von seiner Mutter, die breite Nase, die Joseph so oft mit der scherzhaften Bemerkung kommentiert hatte, sie sei Miriams einziger Beweis, daß sie ihn nicht betrogen hatte. Es war Stephen.
Der hinter ihm stehende Del Ray blickte mit weit aufgerissenen Augen durch seinen beschlagenen Gesichtsschutz.
»Oh, mein armer Junge«, flüsterte Joseph. In dem Moment hätte aller Wein der Welt seinen Durst nicht löschen können. »Oh, lieber Herrgott, was haben sie mit dir gemacht?«
Kabel auf
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