Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
die Richtung noch stimmte, und gegen die kleinen Wellen anschwimmen, die ihn seitwärts ins grüne Nichts abdrängen wollten. Als er schließlich den Körper und seine treibende Bahre erreichte, packte er das nächstbeste Stück Holz – ein Wrackteil von einem zertrümmerten Boot – und hielt sich daran fest, bis er wieder bei Atem war. Das Opfer war niemand, den er kannte, was ihn nicht sonderlich überraschte – ein Mann mit dunkler Haut wie Nandi, aber viel größer und breiter gebaut. Der Fremde trug nichts weiter als eine Art Rock aus grobem Stoff und einen Leibriemen, in dem ein Bronzemesser steckte; seine bloße, sonnenverbrannte Haut hatte die Farbe einer Pflaume. Aber die wichtigste Feststellung war, daß seine Brust sich mit flachen Atemzügen hob und senkte, was Paul der Möglichkeit beraubte, ohne zusätzliche Last einfach zum Floß zurückzuschwimmen und sich sagen zu können, er habe jedenfalls seine Pflicht getan.
Auch wenn er sich mit seiner heilen Hand an das Treibholz klammerte, mußte Paul dennoch seinen anderen Arm weitaus mehr belasten, als ihm guttat, um den Schleier an den Enden zu verknoten und ihn dem Mann unter den Armen hindurch um die Brust zu schlingen. Zuletzt griff er sich das Messer des Fremden und schob es sich in den Gürtel. Er steckte seinen Kopf durch die Schlinge, nahm den Schleier zwischen die Zähne wie ein Trensenmundstück und legte sich den Mann behutsam auf den Rücken. Sie bildeten ein absonderliches Gespann.
Der Rückweg war noch zermürbender als der Hinweg, doch falls unter den Wellen Meeresungeheuer oder zürnende Götter wohnten, begnügten sie sich damit zuzuschauen, wie Paul sich mühsam mit einem Arm vorwärtskämpfte. Der Schleier schnitt ihm in die Mundwinkel, und der Fremde schien mehrmals beinahe zu erwachen, denn er bäumte sich auf und bremste Pauls ohnehin alles andere als olympischen Kraulschlag. Nachdem er sich für sein Empfinden eine gute Stunde lang durch die Wellen gequält hatte, von denen jede schwer wie ein Sandsack auf ihn klatschte, erreichte er endlich das Floß. Mit einem letzten heldenhaften Kraftakt hievte er den Fremden an Deck und sackte dann japsend neben ihm zusammen. Vor dem dunkler werdenden Blau des Himmels tanzten ihm Lichtpünktchen wie winzige Sterne vor den Augen.
Wie so oft erschien sie ihm im Traum, aber diesmal ohne die Dringlichkeit ihrer sonstigen Besuche. Statt dessen sah er sie als Vogel im Wald von Baum zu Baum flattern, während er ihr zu Fuß folgte und sie beschwor herunterzukommen, weil er wider alle Vernunft befürchtete, sie würde abstürzen.
Sanft von den Wellen gewiegt wachte Paul auf. Der Körper, den er mit solchen Mühen durchs Wasser geschleppt und an Deck gewuchtet hatte, war fort. Mit der grausigen Gewißheit, daß der Fremde vom Floß gerollt und ertrunken war, setzte er sich auf, doch der Mann saß auf der anderen Seite des Decks und hatte Paul seinen muskulösen, dunkelbraunen Rücken zugekehrt. Er hatte die abgebrochene Mastspitze und ein Stück Segel auf dem Schoß.
»Du … du lebst«, sagte Paul, nicht die scharfsinnigste Eingangsbemerkung, wie ihm sofort klar war.
Der Fremde drehte sich um, und sein schön geschnittenes, schnurrbärtiges Gesicht war geradezu die verkörperte Gleichgültigkeit. Er deutete auf die Gegenstände vor sich. »Wenn wir ein kleines Segel machen, können wir eine der Inseln erreichen.«
Paul hatte noch keinen rechten Sinn für ein Gespräch über Bootsausbesserungen. »Du … als ich dich sah, dachte ich, du wärst tot. Du mußt stundenlang im Wasser getrieben sein. Was ist passiert?«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Die verdammte Strömung vor der Meerenge hat mich erwischt und gegen die Felsen geknallt.«
Paul setzte schon an, dem anderen zu sagen, wie er hieß, dann stockte er. Er durfte diesem Fremden auf keinen Fall seinen richtigen Namen sagen, und auch der Name »Odysseus« konnte problematisch werden. Er suchte sich zu erinnern, was die alten Griechen mit Worten gemacht hatten, in denen ein J vorkam. »Ich heiße … Ionas«, sagte er schließlich.
Der andere nickte, aber hatte es offenbar nicht eilig, sich seinerseits vorzustellen. »Halt mal das Segel, damit ich es schneiden kann. Aus dem, was übrigbleibt, können wir uns ein Dach machen. Ich will nicht noch einen Tag in der prallen Sonne zubringen.«
Paul kroch übers Deck und hielt das schwere Tuch straff, während der Fremde es mit seinem Messer durchsägte, das er offenbar wieder an sich
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