Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Stephens Stirn schlängelten sich unter Pflastern hervor wie Lianen; andere waren ihm an die Brust geklebt oder wanden sich um seine Arme. Joseph fand, er sah aus, als wäre er im Dschungel hingefallen, und die Pflanzen hätten angefangen, ihn sich einzuverleiben. Oder als würde er sein Leben in die ganzen Apparate verströmen. Was hatte Renie gesagt? Daß Leute das Netz und die ganzen Kabel und so dazu benutzten, den Kindern was anzutun? Joseph hatte gute Lust, sie alle wegzureißen, die Kabel mit den Fäusten zu packen wie trockenes Gras und sie zu zerfetzen, damit die leise vor sich hinsummenden Apparate seinem Jungen nicht mehr das Leben aussaugen konnten. Aber er war völlig unfähig, sich zu bewegen. Hilflos wie Stephen selbst konnte Joseph nur in das Bett starren, wie er einst in den Sarg seiner Frau gestarrt hatte.
Dieser Mfaweze, ging es ihm durch den Kopf, dieser verdammte Bestattungsheini, der hat mir einreden wollen, ich sollte sie mir nich nochmal anschauen. Als ob ich sie nich die ganze Zeit angeschaut hätte, wo sie hier in diesem selben Scheißkrankenhaus gelegen hat, völlig verbrannt. Er hatte den Bestattungsunternehmer umbringen wollen, einfach irgend jemand, hatte die riesige schwarze Ladung Haßenergie in seinem Innern nur bezwungen, indem er sich dermaßen betrank, daß er nach der Trauerfeier außerstande gewesen war, aus der Kirche zu gehen, und einfach eine Stunde sitzengeblieben war, nachdem schon alle weg waren. Aber jetzt gab es nicht mal einen Mfaweze, den man hassen konnte. Es gab nichts als die Hülse seines Sohnes, die Augen geschlossen, der Mund schlaff, der ganze Körper eingerollt wie ein verwelkendes Blatt.
Neben ihm blickte Del Ray erschrocken auf. Eine Gestalt mit breiten Hüften und dunklem Gesicht war in der Tür erschienen, eine Frau, das konnte auch der Ensuit nicht verbergen. Sie kam ein paar Schritte näher, dann blieb sie stehen und starrte die beiden an.
Joseph fühlte sich zu leer, um ein Wort zu sagen. Eine Schwester, eine Ärztin – sie war nichts. Sie konnte nichts tun. Nichts hatte noch eine Bedeutung.
»Kann ich euch behilflich sein?« fragte sie mit scharfer, vom Gesichtsschutz verzerrter Stimme.
»Wir … wir sind Ärzte«, sagte Del Ray. »Hier ist alles in Ordnung. Du kannst mit deinem Dienst weitermachen.«
Die Schwester musterte sie abermals, dann machte sie einen Schritt zurück zur Tür. »Ihr seid keine Ärzte.«
Long Joseph fühlte, wie Del Ray erstarrte, und irgendwie reichte das aus, um ihn in Gang zu bringen. Er trat auf die Frau zu, hob seine große Hand und deutete mit dem Finger auf ihr maskiertes Gesicht.
»Laß ihn bloß in Ruhe!« herrschte er sie an. »Mach’s nich noch schlimmer mit dem Jungen! Nimm ihm das Kabelzeugs da ab, daß er atmen kann!«
Die Frau wich so weit zurück, daß sie um ein Haar in das Bett des Patienten hinter ihr gefallen wäre. »Ich rufe den Sicherheitsdienst!« erklärte sie.
Del Ray packte Joseph am Arm und riß ihn von der Schwester weg, zur Tür. »Alles in Ordnung«, wiederholte er idiotisch und wäre beinahe gegen den Türpfosten gerannt. »Kein Grund zur Besorgnis. Wir wollten gerade gehen.«
»Rühr ihn nich an!« schrie Joseph und klammerte sich an den Türrahmen, während Del Ray versuchte, ihn in den Korridor hinauszuzerren. Hinter ihr sah er den Umriß von Stephens Sauerstoffzelt wie eine Sanddüne aufragen, wüst, leblos. »Laß das Kind bloß in Ruhe!«
Del Ray zog mit einem solchen Ruck, daß Joseph auf den Flur stolperte, dann drehte er sich um und sprintete auf die Treppe zu. Joseph tappte wie traumbetäubt hinter ihm her und schlug erst einen schnelleren Trab an, als er schon halb den Flur hinunter war. Seine Brust ging auf und nieder, und er wußte selber nicht, ob er gleich lachen oder weinen würde.
Die Schwester überprüfte das Zelt und die Monitore des Patienten und zog dabei das Pad aus ihrer Tasche. Ihr erster Anruf galt einem schwarzen Van mit verspiegelten Fenstern, der seit Wochen als Dauerparker auf dem Platz vor der Klinik stand und genau auf diese Meldung wartete, und erst nachdem sie noch einmal gut fünf Minuten hatte verstreichen lassen, damit die Eindringlinge auch bestimmt aus dem Gebäude heraus waren, rief sie den Sicherheitsdienst des Krankenhauses an und meldete eine Verletzung der Quarantäne.
Kapitel
Der unheimliche Gesang
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Onkel Jingle ist dem Tode nahe!
(Bild: Onkel Jingle im Krankenhausbett)
Jingle: »Kommt näher, Kinder. (Hustet.) Habt
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