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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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doch sehr menschenähnliche. Er richtete sich auf und stellte fest, daß Azador ebenfalls wach war und mit seitwärts gelegtem Kopf lauschte wie ein Hund.
    »Was …?« setzte Paul an zu fragen, doch der Fremde hob die Hand. Paul verstummte, und gemeinsam ließen sie sich von der fernen Musik berieseln. Die offensichtliche Anspannung des anderen Mannes hatte zur Folge, daß Paul die zuerst so wundersam schönen Klänge nunmehr als beinahe bedrohlich empfand, obwohl sie nicht lauter geworden waren, und er dem Drang widerstehen mußte, sich die Ohren zuzuhalten. Und noch ein Drang machte sich bemerkbar, schwächer, aber unheimlicher, ein Flüstern, das ihn bereden wollte, sich in das wohlige Wasser gleiten zu lassen und zu den Stimmen hinüberzuschwimmen, um ihr Geheimnis zu ergründen.
    »Es sind die Sirenen«, sagte Azador abrupt. Im Gegensatz zu den fernen Tönen klang seine Stimme rauh wie die einer Krähe. Paul verspürte auf einmal eine Abneigung gegen den Mann, nur weil er etwas gesagt hatte, während die Stimmen noch sangen. »Hätte ich gewußt, daß wir ihnen schon so nahe waren, wäre ich nicht eingeschlafen.«
    Paul schüttelte verwirrt den Kopf. Die ferne Musik schien an seinen Gedanken zu kleben wie Spinnweben. »Die Sirenen …« Jetzt fiel es ihm wieder ein – Odysseus war an ihnen vorbeigefahren, nachdem er seinen Männern befohlen hatte, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen, während er selber festgebunden am Mast stand, damit er ihrem sagenumwobenen Gesang lauschen konnte, ohne sich ins Wasser zu stürzen.
    Das Wasser … das schwarze Wasser … und uralte Stimmen, die singen … singen …
    Paul beschloß, sich abzulenken, die Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu richten, das seine Gedanken von der verführerischen, verstörenden Musik fernhielt, die über das schwarze Meer tönte. »Bist du früher schon mal hier gewesen?«
    Azador gab abermals einen seiner nichtssagenden Laute von sich, doch dann ließ er sich zu einer Äußerung erweichen. »Ich bin schon an vielen Orten gewesen.«
    »Wo bist du ursprünglich her?«
    Der Fremde schnaubte. »Nicht von hier. Nicht von diesem dämlichen Meer, diesen dämlichen Inseln. Nein, ich suche hier jemand.«
    »Wen?«
    Azador sah Paul scharf an, dann wandte er sich wieder der singenden Finsternis zu. »Der Wind trägt uns an ihnen vorbei. Wir haben Glück gehabt.«
    Paul schob seine Finger zwischen zwei Stämme und hielt sich fest, um sich gegen den Zug zu wehren, der jetzt zwar schwach war, aber ihm immer noch zu schaffen machte. Ein Teil von ihm wollte unbedingt herausfinden, wie diese Wirkung zustande kam, wollte das Warum und Woher der virtuellen Sirenen ergründen – er hatte das vage Gefühl, daß es dort etwas Wesentliches zu entdecken gab –, doch als dann die Lockung der Musik ein wenig nachließ, erfaßte ihn eine stärkere, tiefere Empfindung, eine unerwartete Mischung aus Ehrfurcht und Entzücken.
    Es mag sein, was es will dachte er, dieses Netzwerk, diese … egal was … es ist tatsächlich eine magische Welt.
    Irgendwo in der lichter werdenden Dunkelheit gaben die Sirenen, vielleicht bewußt, vielleicht so automatisch wie im Gras sägende Grillen, weiter ihren unheimlichen Gesang von sich. Nunmehr vor ihrer Anziehung sicher segelte Paul Jonas langsam durch eine warme Nacht in der antiken Welt, und eine Weile überließ er sich dem Staunen.
     
    Im Licht des folgenden Tages war Azador, sofern möglich, noch wortkarger als vorher: Wenn er Pauls Fragen nicht mit einem Achselzucken oder einem Knurren abtat, ignorierte er sie einfach.
    Doch trotz seiner Widerborstigkeit war er ein brauchbarer Reisegefährte. Er kannte sich viel besser als Paul mit den einfachen, wichtigen Dingen aus, die gegenwärtig ihre Welt ausmachten: mit Winden und Gezeiten und Knoten und Holz. Er hatte es geschafft, aus abgerissenen Seilenden vom Segel neue Brassen zu spleißen, so daß sie jetzt das Floß viel besser führen konnten, und er hatte auch eine Ecke des unbenutzten Segeltuchs als Taufänger aufgespannt, und so hatten sie bei Sonnenaufgang Wasser zu trinken. Später am Tag gelang es dem Fremden sogar, mit einem raschen Griff in das flaschengrüne Wasser an der Backbordseite einen glänzenden Fisch zu fangen. Sie hatten kein Feuer, und wie üblich war Paul nicht besonders hungrig, aber obwohl er sich ein wenig überwinden mußte, hatte es doch etwas Wunderbares, das rohe Fleisch zu verzehren. Paul stellte verwundert fest, daß er beinahe Behagen verspürte –

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